Erstaunlich, was sich damals abspielte in Düsseldorf. Auf der Akademiewiese gründete Joseph Beuys die erste Studentenpartei, während die Gäste in der legendären Künstler-Disco Creamcheese ihre Zigaretten auf dem Popo von Gerhard Richters monumentalem »Mädchenbild« ausdrückten. Dazwischen stand man Schlange vor der »bumsvollen« neuen Kunsthalle am Grabbeplatz oder lief ehrfürchtig über jene berühmten Stahlplatten, die Carl André zur Eröffnung in Konrad Fischers Galerie verlegt hatte. Düsseldorf Ende der 1960er Jahre: Ein Tummelplatz der internationalen Avantgarde. Museumsmann Karl Ruhrberg konnte sich nur wundern: »Liegt Paris am Rhein?«
Es war die Zeit, als auch der junge Erik Andersch durch die Altstadt-Kneipen zog, wo ihm an einem Mai-Morgen des Jahres 1968 die US-Künstlerin Dorothy Iannone und der Schweizer Eat-Art-Pionier Daniel Spoerri über den Weg liefen. Keine Sensation. Doch für Andersch wurde die Begegnung zum Beginn einer lebenslangen Leidenschaft und die Initialzündung für eine einzigartige Sammlung, die er über rund 50 Jahre gemeinsam mit seiner Frau Dorothee zusammengetragen hat. Neben herausragenden Einzelwerken stehen Grafisches und Multiples der Fluxus-Künstler. Dazu Schallplatten, Postkarten, Flyer, Plakate. Hinzu kommen Fotos, Dokumente und Briefe, Kataloge und Kritiken. Eine umfassende Materialsammlung, die ein sehr lebendiges Bild zeichnet von den Geschichten rund um jene Kunst, die sich so schlecht an einzelnen ikonischen Werken festmachen lässt. Die von Aktion und Kommunikation lebt, dabei Grenzen zwischen Disziplinen aufhebt und das Publikum mitmachen lässt.
Heute zähle diese Sammlung zu den drei weltweit wichtigsten auf dem Gebiet des Fluxus im weiteren Sinne, so schätzt Expertin Susanne Rennert. Deshalb war es der Kunsthistorikerin auch so wichtig, die Schätze der Anderschs geschlossen an ein Museum zu vermitteln. Mit etwas Ausdauer hat sie es geschafft: Seit 2017 werden Sammlung und Archiv auf dem Abteiberg in Mönchengladbach bewahrt und bearbeitet.
Beuys, Spoerri und Iannone, George Brecht, Robert und Marianne Filliou, Dieter Roth, Takako Saito… Gekannt hat Andersch fast jeden: »Es war mehr oder weniger alles Familie.« Und gerade das macht die Sache so außergewöhnlich. Man wohnte, redete, spielte zusammen. Mit Robert Filliou war Erik Andersch zu Besuch bei Beuys. In Spoerris Düsseldorfer Restaurant sprang der Lehrer oft als Wirt ein, während Katharina Sieverding kellnerte. Die Anderschs waren Teil jenes Netzwerks, dessen Fäden sich damals dicht durch Düsseldorf zogen. Und sie haben sicher auch dazu beigetragen, dass sich das Geflecht so lange hielt.
Gerne hätte man die beiden zuhause besucht. Doch Erik mag keine Bäume ohne Blätter, wie er am Telefon erklärt. Deshalb verbringt das Paar die kühlen Monate schon seit vielen Jahren auf La Gomera und kehrt erst heim, wenn es wieder grünt im Garten des schönen Altbaus in Neuss, wo die Avantgarde einst ein und aus ging. Oft wochen-, manchmal auch monatelang kamen die Künstler in diesem gastlichen Haus unter: George Brecht etwa und immer wieder Robert Filliou. Dann wurde abends gefeiert und gespielt – Fluxus-Spiele wie George Maciunas Schach-Variante, wo Sanduhren die Figuren ersetzen. »Wir redeten auch viel Blödsinn«, so Andersch. Was nicht zuletzt an reichlich Rotwein gelegen haben mag. Am nächsten Morgen musste der Gastgeber trotzdem raus, als einziger. Und um acht wieder fit vor der Klasse stehen.
Nebenbei leitete der Pädagoge ein Wohnheim, das vor allem ausländischen Student*innen offenstand und für Andersch zu einem weiteren heißen Draht in die internationale Künstlerszene wurde. »Bei ihm lief beides parallel: Das Leben als Lehrer und in der internationalen Bohème«, bemerkt Susanne Titz, Direktorin am Museum Abteiberg. Das sei seiner Sammlung anzumerken: »Sie atmet.«
Andersch zog durch Galerien oder kaufte die Stücke direkt bei den befreundeten Künstlern. Einiges überließen diese ihm auch, als Gastgeschenk etwa – etliche Werke der Sammlung sind mit persönlichen Widmungen versehen. Andersch tauschte mit Sammler-Kollegen und bewahrte wohl das ein oder andere vor der Tonne. George Brecht zum Beispiel habe nie viel Kunst im Hause haben wollen, erinnert er sich. »Wenn es ihm daheim zu voll wurde, hat er die Sachen weggeschmissen – oder er hat sie mir geschenkt – er wusste, dass ich sie nicht verkaufe, sondern immer schön bei mir behalte.«
Kunst und Alltag verschwimmen
Oft sind es unscheinbare Schachteln, die es in sich haben. Robert Filliou etwa legte sein schmutziges Staubtuch hinein und heftete dazu ein Foto, das ihn beim Versuch zeigt, Paul Klees »Hafen mit Segelschiffen« in einem Pariser Museum abzustauben. So schlicht und humorvoll kann Kritik an der Institution des altehrwürdigen Museums verpackt sein. Bei George Brecht sind es 94 weiße Karten, die in der Schachtel stecken. Darauf geschrieben stehen in schwarzen Lettern Handlungsanweisungen, Ereignisse, Gedanken. Ihre Interpretation oder Umsetzung bleiben dem Publikum überlassen – die Grenzen zwischen Künstler und Rezipient, Kunst und Alltag verschwimmen.
Erik Andersch liebte das Kleine. »Die teure Kunst ging an mir vorbei, die brauchte ich nicht und konnte sie mir als alleinverdienender Lehrer auch gar nicht leisten«, sagt er. Allerdings übten auch kapitale Werke gelegentlich ihren Reiz auf ihn aus. Andersch kommt auf Joseph Beuys‘ mit Filz umhüllten Flügel zu sprechen, den er in der Antwerpener Galerie Wide White Space sah und leider stehen lassen musste: »20.000 Mark sollte er kosten, für mich mehr als ein Jahresgehalt, das ging natürlich nicht.« Inzwischen hat das gute Stück seinen Weg ins Pariser Centre Pompidou gefunden.
Doch auch ohne Flügel hatten die Anderschs einiges unterzubringen daheim. Wo nur haben sie all ihre Schätze aufbewahrt? Im Kleiderschrank zum Beispiel: Anziehsachen brauche er kaum, sagt Andersch, so habe immer mehr Kunst Platz gefunden, wo eigentlich Hemd und Hose hingehörte. Doch untertreibt er wohl gern. Susanne Rennert nennt es »Bescheidenheit« und betont, dass Andersch ein hochprofessioneller Mensch sei, der die Objekte und Materialien keineswegs irgendwo hingesteckt habe. In Regalen und Schränken seien sie sorgsam gepflegt und sortiert aufbewahrt worden.
Sie schwärmt von Anderschs Bibliothek, die ganz herausragend sei: »Unglaublich vollständig: Da bildet sich fast die gesamte Fluxus-Literatur ab.« Hinzu kommt das Archiv mit ungeheuer viel Korrespondenz. Dann natürlich die Kunstsammlung: Die gesamte Grafik von Dieter Roth, alle Editionen von Robert Filliou, etliche Werke von George Brecht, ein wichtiges Konvolut von Takako Saito… Ein Schatz, der sich bestens in die Sammlung des Museums in Mönchengladbach fügt, das vor allem durch seinen einstigen Leiter Johannes Cladders mit der Fluxus-Bewegung und ihrem Umfeld eng verbunden ist.
Cladders Nachfolgerin Susanne Titz zeigt sich denn auch begeistert über die Neuerwerbung: Fluxus-Werke stünden oft beziehungslos im Museum, seien eher Reliquien als Relikte. Die ganze Vielfalt der Materialien in Anderschs Sammlung – auch die kleinen Zettel, Briefe, Flyer – helfe, das eigentliche Leben dieser Arbeiten zu verstehen. »Es war uns immer ein großes Anliegen, den Kontext zeigen zu können, die Zeit, in der diese Kunst akut war und funktionieren wollte.« Zum 100. Geburtstag von Beuys werden Titz und ihr Team nun erstmals etwas davon zeigen: Die Beuys-Werke und Archivalien sollen in den Vitrinen und Schubladen eines Schau-Magazins glänzen. Gedacht ist das Ganze auch als eine Art Probelauf – so könnte eine dauerhafte Präsentation der besonderen Sammlung Andersch aussehen.
Eigentlich wollte er sie bei sich behalten: »Mein Spielzeug bleibt bei mir, bis ich sterbe.« Das stand fest für Andersch. Immerhin habe es denn auch drei, vier Jahre gedauert, bis Susanne Rennert ihn zum Verkauf »überreden« konnte, scherzt der 80-Jährige. Gibt aber zu, dass er nun doch ernsthaft froh und glücklich sei, alles in so guten Händen zu wissen.
INSTITUTIONSKRITIK – DAS MUSEUM ALS ORT DER PERMANENTEN KONFERENZ (J.B.)
MUSEUM ABTEIBERG, MÖNCHENGLADBACH
3. JUNI BIS 24. OKTOBER 2021