Vom Gelsenkirchener Hauptbahnhof sind es nur drei Minuten mit der Straßenbahn. Dann ist man da: in Ückendorf, auf der Bochumer Straße. Einer der Hauptverkehrsadern im südöstlichen Stadtteil, in dem die Leiterin des Kulturreferats, Andrea Lamest, an Gründerzeithäusern vorbeiführt. Viele verfügen über Ladenlokale, in die Ateliers, Bars, ein Co-Working-Büro und ein Virtual-Reality-Raum eingezogen sind. Dazwischen gibt es Jugendstilgebäude mit Baugerüsten und Transparenten vor den Fassaden, die für neuen Wohnraum werben. Ein Viertel im Sanierungsmodus.
Zwar wimmelt es immer noch von leeren Ladenlokalen und maroden Gebäuden, doch es sieht nach Aufschwung aus. Noch vor knapp zehn Jahren war das kaum zu erwarten: Ückendorf schien nicht mehr aus der Abwärtsspirale herauszukommen. Leerstand um Leerstand, ein baufälliges Gebäude nach dem anderen. Zudem geriet der einst prächtige Stadtteil, der nach dem niedergegangenen Kohlebergbau in die Krise rutschte, bundesweit in die Schlagzeilen: Als No-Go-Area, Ghetto. Die Stadt reagierte. Seit 2013 zählt Ückendorf nun zu den »Kreativ.Quartieren Ruhr«. Künstler sollten sich hier ansiedeln. Bis 2018 förderte das Land das Kreativquartier mit rund 170.000 Euro. Zudem entstand die Stadterneuerungsgesellschaft SEG, mit dem Plan, Problemquartiere in Wohn-, Kultur- und Freizeitgebiete zu verwandeln. Dafür arbeitet sie eng mit dem Kulturreferat und Vertretern der Kunst- und Kreativszene zusammen.
Andrea Lamest hat schon mehrere Künstlerhäuser geleitet. Sie ist Kulturmanagerin, hat aber auch freie Kunst studiert, was sich in ihren Plänen für Ückendorf bemerkbar macht: »Für mich ist es wichtig, dass man die Kultur und Kunst in Gelsenkirchen mit ihrem ganzen Potenzial nach außen besser verkauft, das heißt, dass die Stadt mehr damit wirbt.« Sie macht mit SEG-Geschäftsführerin Helga Sander bekannt, die ihr Büro mitten im Quartier betreibt: In einem Haus an der Bochumer Straße 140/142, über dem Co-Working-Space »c/o – Raum für Kooperation«.
Sander und ihr Team haben schon 30 Problem-Immobilien aufgekauft, saniert oder zur Zwischennutzung überlassen. Das Investitionskapital stammt aus einem Baugrundstück aus Buer, im Norden von Gelsenkirchen, das die Stadt der SEG überschrieben hat. Ein ehemaliges Klinikgelände, auf dem Wohnungen entstehen und deren Erlöse aus dem Verkauf der Grundstücke in den Ankauf der Problem-Immobilien fließen. »Das ist bundesweit neu, dass eine Stadt so aktiv in den Immobilienmarkt eingreift«, sagt Helga Sander. Ihre Vision für Ückendorf: »Ein urbanes Quartier mit Ausgehmeile und studentischem Wohnen.« So hat sie etwa den Betreiber von »c/o – Raum für Kooperation« das Ladenlokal im selben Haus vermittelt – nach Kauf und Sanierung. »Wir waren sehr früh miteinander in Kontakt. Als klar war, dass dieses Gebäude saniert wird, haben wir mit der SEG geguckt, wie wir den Raum für uns gut nutzbar machen«, sagt Simon Schlenke. Der Kommunikationsberater hat 2019 mit zwei Freelancern ein Büro mit Saal, Bühne und Küche eingerichtet. Für Arbeitsplätze auf Zeit, Meetings, Workshops. Er stammt aus Ückendorf und lebt dort. Wie seine Mitstreiter war es ihm wichtig, einen Coworking-Standort im Quartier zu etablieren. 2015 gründeten sie außerdem den Verein »Insane Urban Cowboys & -girls« (IUC). Ein Netzwerk aus Kreativunternehmern und Kulturschaffenden.
Zum Gründungsteam gehörte auch Roman Pilgrim. »Cowboys brauchen wenig, nur ein paar Räumlichkeiten,die kommen klar mit jeder Situation. Wir Kreativen wollten uns untereinander vernetzen, um Kultur im Stadtteil nach vorne zu bringen«, sagt der Künstler, der vom »c/o« in sein Atelier in der Bochumer Straße 162 führt. Im Herbst 2019 hat er mit seinem Künstlerkollegen Alexander Stratmann das Ladenlokal renoviert und ausgebaut. In einem rotbraunen Backsteinhaus mit weißem, stuckverziertem Eingangsportal, das ebenfalls der SEG gehört. Pilgrim nutzt sein Atelier auch als Galerie und Veranstaltungsraum. Zwischen Couch und Mal-Utensilien stehen und hängen lauter abstrakte Acrylgemälde. Noch ein paar Tage zuvor hat hier die Kölner Indie-Pop-Band Fortuna Ehrenfeld ein kostenloses Konzert im Hinterhof gegeben. Pilgrim hatte sie eingeladen – gemeinsam mit dem Kulturreferat und den »Kulturcowboys«, die mit ihren Aktionen gern auch satirisch auf Ückendorfs Ruf als Gangster- und Ghettoviertel reagieren: »Wir haben eine Hip-Hop-Party gemacht, unter dem Motto: ‚No-Go-Area – Ihr habt hier nix zu suchen!‘. Und da kam dann auch wirklich die Polizei, weil sie vermutet hat, dass hier ein gesuchter Verbrecher herumläuft«, erzählt Roman Pilgrim.
Los ging die Party damals im »Exodos« in der Bochumer Straße 134, das einst ein Kino war, dann ein Stadttheater, eine Boxbude und Disco – und jetzt ein Raum ist, den die »Cowboys« oft bespielen. Auch mit »Places«, Deutschlands erstem und größtem Virtual-Reality-Festival seit 2018. Auch Roman Pilgrim hat es mitinitiiert. Das Ziel: das immersive Medium für alle zugänglich zu machen. Dementsprechend fand das VR-Festival an rund 20 Orten entlang der Bochumer Straße statt. Kostenlos. Im SEG-Büro, im »c/o«-Raum, in Ateliers, auf Plätzen und in leerstehenden Gründerzeit-Wohnungen. Mit VR-Brille und Controller konnten Besucher zum Beispiel in das letzte Steinkohle-Bergwerk Prosper Haniel in Bottrop einfahren. Bei Vorträgen, Diskussionsrunden oder Workshops trafen VR-Macher und -Nutzer im Kiez zusammen. 2019 verlieh Tourismus NRW dem »Places«-Team den Urbanana-Award für außergewöhnliche Konzepte im Städtetourismus. Das Festival ist zu einer wichtigen Marke in Gelsenkirchen geworden. Im selben Jahr ehrte das Kompetenzzentrum für Kultur- und Kreativwirtschaft Creative.NRW die »Cowboys und -girls« mit dem Creative.Spaces-Award. Das Preisgeld von 5000 Euro will der Verein in neue Projekte investieren.
Vom Atelier Pilgrim geht’s in fünf Minuten in die Heidelberger Straße zum einstigen Gemeindesaal der Heilig-Kreuz-Kirche. Eine Backsteinhalle, 400 Quadratmeter groß, sechs Meter hoch. Hier verwirklicht der Künstler Christoph Lammert mit seiner Frau Hiltrud ein ungewöhnliches Wohn- und Arbeitsprojekt: »HeidelbÜrger«. Eine Hausgemeinschaft mit »Kumpanen«, in denen zwei Familien in ihren eigenen Wohnungen leben, sich aber auch Gemeinschaftsräume teilen. Im Erdgeschoss richtet Lammert gerade sein Atelier ein: Auf der Bühne nebenan stehen seine abstrakten Landschaftsgemälde und ein rotes Piano. Bald soll es Leinwand-Salons und Konzerte geben. Und genossenschaftliches Wohnen unter der Regie von Bürgern – eine Form, die auf nachbarschaftliches Miteinander setzt. Lammert und seine Frau sind Ende 2015 von Bochum nach Ückendorf gezogen. Er lächelt viel, wirkt zufrieden und stolz. Der umtriebige Maler hat schon mehrere Kultur-Projekte im Stadtteil entwickelt. Etwa die »Szeniale«, ein Festival der freien Szene mit Theaterstücken, Lesungen, Ausstellungen und Konzerten. In Ateliers, Galerien und in Hinterhöfen. Zusammen mit dem Kulturreferat.
Rund zwei Kilometer entfernt von der Heidelberger Straße taucht man in eine ruhige Gegenwelt: die Künstlersiedlung Halfmannshof, die es seit 1931 gibt. Ein Karree aus einstigen Bauernhäusern: weiß, langgezogen, verwinkelt, teils aus Fachwerk, teils mit Schieferfassaden. Inmitten von Wiesen und Feldern. In den 1960er und 1970er Jahren entwickelte sich das Areal zu einem Hotspot der Avantgarde, als Günther Uecker oder Otto Piene aus der ZERO-Gruppe vorbeischauten. Heute leben hier ein Buchbinder-Ehepaar, eine Kostüm- und Bühnenbildnerin, eine Pianistin oder ein Filmproduzent. Die Medienkünstlerin Gabi Rottes ist Projektmanagerin am Halfmannshof, die ihn mit ihrem Partner, dem Künstler René Sikkes, zu einer Stätte geformt hat, die neue Wohn- und Arbeitstrends miteinander vereint: mit Co-Living und Co-Working. Mit Wohnateliers, gemeinschaftlichen Arbeitsflächen, Team-Räumen. Für Workshops oder Sommerakademien. Rottes bezeichnet sich augenzwinkernd als »Herbergsmutter«: Sie organisiert Ausstellungen, kümmert sich um Vermietungen, macht Pressearbeit. Wird Ückendorf bald wieder strahlen? Es sieht ganz danach aus.
www.kreativquartier-ueckendorf.de
»Tom’s Corner«
Der Vintage-Store verkauft Möbel von den 1920er bis 1970er Jahren.
Bochumer Straße 99
»1Null7 – Das Zuhause«
Im Upcycling-Shop werden Kunstobjekte und Mode angeboten, zum Beispiel aus alten Skateboards. Betreiber Maik Rokitta nutzt den Laden auch als Werkstatt, Galerie und Veranstaltungsraum für Konzerte, Lesungen und Partys.
Bochumer Straße 107