kultur.west: Herr Sommer, was machen Sie als Erzählforscher?
SOMMER: Meine Professur spiegelt einen Trend innerhalb der Literaturwissenschaften wieder. Man hat den Literaturbegriff über Mediengrenzen hinweg erweitert. Das Narrative spielt dabei eine große Rolle. Ich bin spezialisiert in der Erzählforschung und interessiere mich im Rahmen meiner aktuellen Arbeit sehr für Langsamkeit und Entschleunigung. Das hat schon früh begonnen, Anfang der 2000er Jahre habe ich als Drehbuchautor Sitcoms für das Privatfernsehen geschrieben. Deshalb bin ich auch vertraut mit dem schnellen Kurzerzählen, eine Sitcom-Folge dauert netto nur 23 Minuten – das genaue Gegenteil eines komplexen, literarischen Werks.
kultur.west: Was spricht für eine eher langsame Lektüre?
SOMMER: Als Literaturwissenschaftler stelle ich fest, dass es immer schwieriger wird, die Studierenden dazu zu ermutigen, längere Texte zu lesen. Man sieht, dass es ihnen tatsächlich zunehmend schwerfällt. Es ist keine Scheu davor, sondern einfach eine Form kognitiver Leistung, die zu erbringen heute schwerer fällt als noch vor 30 Jahren, als ich studiert habe. Ich lese gerade nochmal Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, das ist eine Art von Lektüre, die nur Sinn macht, wenn man sich Zeit nehmen und den Text auf sich wirken lassen kann. Feststellbar ist, dass die Zeit, die wir heutzutage zur Verfügung haben, immer mehr segmentiert ist. Wir nennen das Aufmerksamkeitsökonomie; von allen Seiten wird versucht, unsere Zeit in Beschlag zu nehmen, für welche Dinge auch immer.
kultur.west: Wie macht sich das bemerkbar?
SOMMER: Es gibt diesen »Multi-Screen«-Effekt. Die Menschen tendieren immer mehr dazu, mehrere Anzeigegeräte gleichzeitig zu benutzen. Man sitzt am Laptop, daneben liegt das Smartphone und dazu läuft der Fernseher. Wir verarbeiten also nicht weniger Informationen als früher, sondern eher mehr. Das wäre eine kleine Übung für Ihre Leserinnen und Leser – sich einfach am Ende des Tages zu überlegen, was habe ich heute gelesen? Früher war das überschaubar, heute hat man hunderte Text-Fitzel gelesen, die aber kein kohärentes Bild ergeben, sondern zu einer Art Erschöpfung führen. Hat man sich aber länger mit einem literarischen Text beschäftigt, ist ein positiver Effekt spürbar; ein Gefühl, die Zeit gut verbracht zu haben. Man sollte das aber nicht zu kulturpessimistisch sehen (lacht).
kultur.west: Was macht einen Roman langsam?
SOMMER: Das Verhältnis zum Schnellen, zur genannten Digitalkultur mit all ihren Auswüchsen, die unsere Zeit segmentiert. Gegenüber einer solchen Erfahrung in den digitalen Texträumen ist jedes literarische Lesen langsam. Wichtig ist, welche Art von Kontext ein Werk erzeugen kann. Je komplexer es ist, desto öfter müssen Sie innehalten und darüber nachdenken. Obwohl man schneller liest als hört, dauert die eigene Lektüre länger als das Hören eines Audiobooks, weil man viele Informationen aufgenommen hat, die auch verarbeitet werden wollen. Auf die Länge eines Romans kommt es dabei nicht unbedingt an, es gibt auch kurze Werke, die so viele Fragen aufwerfen, dass sie trotzdem sehr langsam sind, etwa von Kafka. Seine Werke sind vergleichsweise kurz, haben aber eine unglaubliche Dynamik, die dazu führt, dass sie entschleunigen und gleichzeitig eine Wirkung entfalten, die lange über die erste Lektüre hinausgeht. Es geht nicht nur darum, was man liest, sondern um die ästhetische Erfahrung, die den Wert der Literatur kennzeichnet.
kultur.west: Der Mathematiker Archimedes spielt eine große Rolle in ihren Forschungen.
SOMMER: Archimedes soll gesagt haben, wenn man ihm einen Punkt außerhalb der Erdkugel gibt, dann hebt er die Welt aus den Angeln. Ich finde diese Idee sehr schön. Mit ihren »archimedischen« Perspektiven ermöglicht es die Erzählliteratur, sich dem Stress des Alltags zu entziehen und einen neuen Blick auf die Welt zu werfen. Langsames Lesen dient in unserer hektischen Digitalkultur so nicht nur der Selbstvergewisserung, sondern wird auch zu einer Form der Gesellschaftskritik.
Roy Sommer ist seit 2005 Professor für Literatur, Kultur und Medienwissenschaft im Fach Anglistik an der Bergischen Universität Wuppertal. Derzeit arbeitet der 51-jährige Kölner an einem Buchprojekt mit dem Titel »Slow Novel«.