»In Zukunft lasst die, die zu mir zum Spielen kommen, keine Herzen haben«, befiehlt am Schluss von Oscar Wildes Märchen »Der Geburtstag der Infantin« die kalt-stolze Prinzessin. Ihre 26 Jahre jüngere Schwester Alice (»Alice’s Adventures in Wonderland« erschien 1865) ruft den Gestalten um die Herzkönigin mit der Allmacht eines creator mundi zu: »Ihr seid ja nichts weiter als ein Kartenspiel!« Die Träumende ist stärker, als das Traummaterial. Triumph des »als ob«.
Das Kinderbuch des Mathematikers und Diakons Lewis Carroll besitzt in der englischsprachigen Welt enorme Bekanntheit, kennt zahllose Bearbeitungen und steht nicht erst seit der Me-too-Bewegung im Zwielicht verbotener Lüste und des Lolita-Stigmas. Alice ist in Carrolls phantastischem Drama des begabten Kindes autonom. Und ist es in André Kaczmarczyks Inszenierung noch viel mehr. Sie behauptet sich als Zentrum ihrer Wünsche, Handlungen und Bedürfnisse. Aber ist auch eine andere Eliza Doolittle, die ihren Higgins / Pygmalion in Lewis Carroll fand, der die Geschichte für Alice Liddell und ihre Schwestern, Töchter des befreundeten Oxforder Dekans, ersonnen und den Mädchen erzählt hat.
Wie er da auf der Bühne liegt, der Träumer! Hingestreckt gleich einem toten Heldenbildnis, selbst eine erotische Wunscherfüllung, aber unerlöst und auch ein verzweifelt von seinen Geistern heimgesuchter Grübler. Träumt er von ihr? Will nicht, muss. Will nicht, muss. Will nicht, muss.
Der Zorn, dass jemand über sie verfügt, begleitet Alice hier bis in die Kakophonie des Finales. Das Geschöpf wird zum Schöpfer und Zerstörer ihrer Welt. Jede Befreiung und hymnische Selbstbehauptung enthält Gewalttätiges. Alice ist Abenteurerin, Grenzgängerin, Träumerin. Die reale Welt, die den Menschen gemeinsam ist, wird in dem anderen Zustand zu einer ganz und gar individuellen Wirklichkeit. Wobei Traum und Einsamkeit eng zusammengehören und offen bleibt, ob die Verschlusswelt des Traums, durch die Kilian Ponert als tierisch elegantes, elastisches Weißes Kaninchen (und als Lewis Carroll) lotst, eine Welt der Freiheit ist oder deren Kehrseite.
Im Düsseldorfer Schauspielhaus spart diese Phantasie-Welt, die bei Carroll nicht zu lösen ist aus der englischen Mentalität des Satirischen, der Exzentrik, des Spleens, historisierend Possierliches aus und versetzt in einen ambulanten Zustand: einen, der wenig braucht, um zu spielen. Die reine Bühne ist genug: mit ihren Scheinwerfern, Zwischenvorhängen, Prospekten, den Seilen vom Schnürboden, ein paar Requisiten, die klipp-klapp hereinrollen. Eine Tür ist eine Tür ist eine Tür – aber eben auch Mauseloch und Eintritt ins Schattenland, wo die Zeit die Uhren umstellt. Mit dem Wenigen lässt sich alles machen: Schattentheater, Spiegeleffekte, das Farbspektrum ausschöpfen, die Magie von Größenverhältnissen herstellen.
Diese Alice ist zauberisch ballettös, aber nicht nur – sondern bei der fabelhaften Lou Strenger ichbezogen und selbstverloren, früh reif, verstört und aufsässig, »Kleine Tränenfee«, wie eines der Lieder heißt, und große Schwester von Tinker Bell und Andersens Sterntalerkind; und, weil »Wunderland« sich auf »hirnverbrannt« reimt, auch überdrehte Puppe – und brünette Marilyn, somit verletzte Seele.
Den Nonsens adeln
Wenn Alice schrumpft bzw. sich auswächst und nicht mehr durch die Tür passt, steht ein Häuschen im Spielzeugformat neben ihr, als hätten Piet Mondrian und Josef Albers es hingewürfelt. Wenn sie die Raupe trifft, ist die bei Claudia Hübbecker eine mondän schillernde Salonschlange mit Marlene-Timbre, die sich schon zur Kenntlichkeit verpuppt hat und von ihrer Wurm-Existenz bloß noch eine Boa behielt. In der Teaparty-Szene parliert sie hochnäsig mit dem dandyesken Hutmacher und Second Hand-Boy (Kaczmarczyk). Ihr Privatissimum mit dem absolutistischen, pikierten Humpty Dumpty (Thomas Wittmann) und der Schildkröte (Kaczmarczyk), graziös wie eine von Odilon Redon gemalte Loreley auf ihrem Panzer, adelt den Nonsens.
Die Kompositionen von Matts Johan Leenders für kleine Besetzung, darunter Violine und Cello, stimmen leise Töne an. Balladenhaft und zartbesaitet, führen sie die Tradition des romantischen Kunstliedes und der Songwriter fort: die Partitur als zweite Traumspur.
Kaczmarczyk, der seine »Alice«-Fassung klug erweitert und in ihr bis »hinter die Spiegel« schaut, verschiebt sacht die Sphären, lässt Kontakt zu zwischen der Carroll-Liddell-Realität und dem imaginären »Alice«-Reich: ein transitorischer Dialog, der den psychischen Konflikt andeutet. Die Finesse und Akkuratesse des Bob Wilson, mit dem Kaczmarczyk zweimal gearbeitet hat, beherrscht auch er und verwandelt sie sich –weniger formell – an. Auch er ein Bildererzähler, der den Schein dem Sein vorzieht; mit Sinn für das winzige Detail und die einzelne Geste, und selbst Schauspieler, der weiß, wie Partnerinnen und Kollegen wirken und sein können. Er lässt sie, ob Mann, ob Frau, erotisch glitzern und bis in die Travestie hinein Stil walten. Die Kostüme mit Fell, Lack und Glamour sind Carnaby Street, knalliger Underground und Voguing-Parcours.
Zu entdecken sind ein Cecil Beaton der Bühne – sein Funny Girl und seine exquisite Fair Lady.
Vorstellungen: 30. Oktober, Schauspielhaus, und – hoffentlich wieder – im Dezember mit vielen Terminen