Irgendwann hat sich jeder Klaviereleve mal an diesem ur-romantischen Verzauberungsstück versucht – an »Von fremden Ländern und Menschen« aus Robert Schumanns »Kinderszenen«. Mit nur wenigen zarten Klang-Gesten werden da Sehnsüchte geweckt, wie es so nur der Musik gelingt. Zugleich steht der Titel ganz konkret für die Neugierde an fremden Kulturen und Landstrichen. Diese Lust an der Entdeckung zieht sich denn auch wie rein roter Faden durch die Musik des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. »Da die Kunst ein wesentlicher Bestandteil der Kultur überall auf der Welt ist und hier eine grenzüberschreitende Kommunikation möglich ist, wollen wir Zeitgenössische Musik aus verschiedenen Regionen der Welt zur Aufführung bringen, um die Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden zu thematisieren.« So erläutert Günter Steinke, seines Zeichens Kompositionsprofessor an der Essener Folkwang Universität der Künste, das Konzept des diesjährigen Neue-Musik-Festivals NOW!.
Unter der Schumannschen Überschrift »Von fremden Ländern und Menschen« begegnen sich so in den Konzerten Komponist*innen aus Nah und Fern. Brandneue und jüngere Werke von Toshia Hosokawa und Ricardo Eizirik sind da genauso zu hören wie vom Syrer Zaid Jabri und der aus Teheran stammenden Elnaz Seyedi. Das Frankfurter Ensemble Modern feiert seinen 40. Geburtstag mit dem Programm »Afro-Modernism« und Stücken ausschließlich von schwarzen Komponist*innen. Mit Unsuk Chin sowie Younghi Pagh-Paan, die Ende November ihren 75. Geburtstag begeht, sind die beiden vielleicht prominentesten Neue-Musik-Stimmen Südkoreas zu hören. Wobei gerade im Fall Chins, etwa in ihrem jetzt von Tamara Stefanovich gespielten Klavierkonzert oder in dem Ensemblestück »Graffiti« mit den Essener Philharmonikern, die Klangwurzeln zu der einst heimischen Tradition radikal durchtrennt und durch eine westliche Moderne ersetzt worden sind.
Natürlich wurden auch für dieses abenteuerliche Klangpanorama wieder namhaftes Solisten, Ensembles und Orchester eingeladen – von dem WDR Sinfonieorchester über das Ensemble Musikfabrik bis hin zur Neue-Orgelmusik-Legende Bernhard Haas und dem Percussions-Teufel Alexej Gerassimez. Aus dem niederländischen Hilversum gastiert das Radio Filharmonisch Orkest unter Leitung des Ex-Kölner GMDs Markus Stenz. Ursprünglich waren für die 10. und damit die Jubiläumsausgabe von NOW! noch viele weitere Einladungen in alle Welt verschickt wurden. Aber wie überall im internationalen Konzert- und Festivalbetrieb musste man das Programm von NOW! 2020 an Corona und seine Hygienekonzepte anpassen. »Die Orchesterkonzerte mussten in ihrer Besetzung verkleinert werden«, so der Künstlerische Co-Kurator Günter Steinke. Wobei man darauf geachtet hat, dass die ursprünglich geplanten Komponist*innen auch weiterhin in den Programmen bleiben. Einige Projekte können dagegen dieses Jahr wegen der Einreisebestimmungen aus fernen Ländern nicht stattfinden und mussten auf die nächsten zwei Jahre verschoben werden. Trotz der höheren Pandemie-Gewalt hat NOW! 2020 aber dennoch viel und spannendes, von elektroakustisch bis zum modernen Tanztheater zu erzählen – von all den fremden Ländern und Menschen.
30. Oktober bis 8. November