Verzweifelt windet er sich im Kampf gegen die Schlangen. Aus dem Meer waren die Biester gekommen, um zuerst seine Söhne und dann den Priester selbst zur Strecke zu bringen. »Grauenvolles Geschrei hochauf zu den Sternen erhebt er«, so berichtet der römische Dichter Vergil in seiner »Äneis«. Das Ringen um Leben und Tod ist Thema des wohl berühmtesten Kunstwerks, das aus der Antike überliefert ist: die Laokoon-Gruppe in den Vatikanischen Museen. Als neuer Abguss ist der muskulöse Ehrenmann nun auch in Münster dabei. Das muss sein, in einer Ausstellung, die sich um »Passion« und »Leidenschaft« dreht, um die »Kunst der großen Gefühle«.
Immerhin gilt die Laokoon-Gruppe seit ihrer Wiederentdeckung 1506 als Musterbeispiel für die gelungene Darstellung von Verzweiflung und Schmerz. Sie wirkte inspirierend auf etliche Nachfolger*innen und stand im Zentrum lebhafter ästhetischer Debatten. Von dem antiken Paradestück führt die Ausstellung bis ins 21. Jahrhundert, etwa auf den Roten Platz zu Pjotr Pawlenski. Ein Foto zeigt den Künstler nackt auf dem Kopfsteinpflaster – aus Protest gegen das politische System hatte Pawlenski seinen Hodensack dort festgenagelt.
Im LWL-Museum für Kunst und Kultur lässt man diesmal kaum ein künstlerisches Medium aus und interessiert sich praktisch für jede Gefühlsregung – Angst, Hass, Liebe, Verzweiflung, Wut, Trauer… Das ist viel Stoff, um nicht zu sagen zu viel Stoff. Wahrscheinlich hätte es für ein halbes Dutzend spannender Ausstellungen gereicht, zumal wenn man das Thema so gewissenhaft angeht wie jetzt in Münster.
Vor Schmerz schreien
Laokoon steht gleich am Anfang als treffendes Beispiel für »Body Language« und begegnet dort beispielsweise zwei Schächern am Kreuz. Der Tiroler Barockbildhauer Joseph Götsch lässt die beiden in ihrer aussichtslosen Lage eine Art Ausdruckstanz vollführen. Ruhiger daher kommt August Rodins »La douleur« in Gestalt von Eleonora Duse, die ihren Kopf in den Nacken legt und vor Schmerz zu schreien oder zu stöhnen scheint. Zumindest ist ihr Mund geöffnet – anders als bei Laokoon, der sich solcher Entgleisungen enthält. Nicht umsonst bewundert Johann Joachim Winckelmann seine edle Einfalt und stille Größe.
Doch kann »body language« mehr als Schmerz und Qual vermitteln. Neben kämpfenden Priestern und schreienden Kindern, gekreuzigten Dieben, trauernden Müttern und wütenden Kämpfern tritt in Münster die hingebungsvolle Liebe des in Camille Claudels »Walzer« vereinten Paares. Oder auch die hemmungslose Freude in Ernst Barlachs »Lachendem Alten«, der sich kaum halten kann.
Im 12. Jahrhundert wäre so etwas undenkbar gewesen, wie man im folgenden Ausstellungskapitel erfährt. Galt das Lachen doch als obszön, teuflisch gar, und wurde erst ab dem 13. Jahrhundert bildwürdig – aber nur als seliges, himmlisches Lächeln, wie es die hölzerne Jungfrau aus Köln auf ihren schmalen Lippen trägt. Ansonsten wirkt die mittelalterliche Dame etwas steif, was vielleicht damit zu tun hat, dass ihr Bauch hohl sein muss, um Reliquien aufnehmen zu können.
Einen großen Schritt voran kam die Darstellung menschlicher Regungen mit den Universalgenies der italienischen Renaissance. Allen voran Leonardo da Vinci und seiner Erkenntnis, dass für die wirklichkeitsnahe Wiedergabe von Gefühlen anatomische Kenntnisse unabdingbar seien. Die Ausstellung schlägt die erste nördlich der Alpen gedruckte Ausgabe von Leonardos »Trattato della Pittura« auf. »Und von alledem soll seinesorts die Sprache sein, nämlich von den verschiedenen Geberden, die das Gesicht annimmt, oder Hände und ganze Person für jeden der obenerwähnten Gemüthszustände machen«, so steht dort geschrieben. »Dass du dich mit diesen Geberden bekannt machst, ist, Maler, sehr nothwendig für dich, deine Kunst wird sonst die Körper wahrlich zweimal todt zeigen.«
Darauf kann etwas später die Gegenreformation bauen. Mit tiefen Gefühlen und großen Gesten sollten ihre Bilder den Betrachter ergreifen und mitreißen, ihn die Heilsgeschichte miterleben und miterleiden lassen. Wie das aussehen kann, führt Münster etwa an Guido Renis »Heiliger Margarethe« mit leicht geöffneten Lippen und himmelndem Blick vor. Auch Peter Paul Rubens gehört hierher. Seinen »Bethlehemitischen Kindermord« zeigt die Schau in einer Werkstattkopie: Eine Menschenwelle wogt durch das Bild, dramatisch bewegt in extremen Körperhaltungen. Erbarmungslose Häscher, die stechen, hauen, morden, und Frauen mit Gesichtern, erfüllt von Hass und Schmerz.
Kein Halten für Adam und Eva
Wo bleibt die Liebe? Im Zentrum nimmt sich die Ausstellung auch dafür etwas Zeit und startet natürlich bei Adam und Eva. Lange standen die beiden allerdings eher beziehungslos unter dem Baum. Große Gefühle, Begehren, Erotik kommen beim biblischen Paar erst mit den Zeichnungen und Gemälden des 15. Jahrhunderts ins Spiel. Von nun an ist kein Halten mehr – nicht nur für Adam und Eva. In den entfesselten mythologischen Liebesszenen der manieristischen und barocken Malerei werden pausenlos Umarmungen geteilt und leidenschaftliche Küsse ausgetauscht. Gleich sechs Paare tummeln sich bei Paolo Fiammingo zum Liebesspiel vor idyllischer Kulisse. Es nimmt kein gutes Ende, zumindest in Münster mit Arbeiten von Otto Dix bis Nan Goldin und Ana Mendieta, die um Vergewaltigung, Lustmord und sexuelle Abhängigkeit kreisen. Eine vergleichbare Spanne beschreibt das Ausstellungskapitel, in dem Passionen, Martyrien und Ekstasen die Leidenschaften des westlichen Christentums umreißen.
Was im Passionsretabel des 15. Jahrhunderts mit Geißelung, Kreuzabnahme, Grablegung beginnt, findet seine Fortsetzung in den zerrissenen Tierkadavern des »Orgien Mysterien Theaters« von Hermann Nitsch. Am Ende der Tour de Force bietet sich ein besonderes Bonbon. Die Besucher*innen dürfen ihre Mimik per Computer lesen und deuten lassen. Das Ergebnis allerdings ist schon jetzt leicht vorherzusagen: Erschöpfung, etwas anderes wird er in den Gesichtern kaum zu lesen bekommen.
9. OKTOBER BIS 14. FEBRUAR
LWL-MUSEUM FÜR KUNST UND KULTUR, MÜNSTER