Das 23-köpfige Orchester sitzt auf der Bühne, GMD Mihkel Kütson steht am Pult. Rein ist das furiose Prélude. Und tatsächlich: Es glitzert, sprüht Funken, die Luft vibriert in glühender Hitze. Es ist alles da. Die ausgedünnten Niederrheinischen Sinfoniker schaffen es, wie ein voller romantischer Apparat zu klingen. Vielleicht spielt ihnen dabei in die Hände, dass diese Musik und wie sie klingen müsste, dem Publikum so präsent ist, dass es manchmal auch mehr zu hören glaubt, als tatsächlich da sein kann.
Über die gesamte Spieldauer zeigt sich aber auch, dass die Fassung von Gerardo Colella mit viel Gefühl für die Möglichkeiten und Farben der kleinen Besetzung gestaltet wurde. Für die Instrumentalist*innen ist sie allerdings gnadenlos. Verstecken im großen Ganzen kann sich hier niemand, jede rhythmische Unschärfe, jede ungenaue Intonation ist sofort hörbar. Mikhel Kütson hat seine Musiker*innen perfekt aufgestellt und kitzelt aus der Besetzung den feinen kammermusikalischen Ton, den vollen Orchesterklang und manchmal auch gezielt eine raue Direktheit wie von in einem Kaffeehaus-Ensemble. Perfekte Auslotung des Möglichen.
Tanz im Video
Ganz konzertant bleibt der Abend nicht. Der südafrikanische Regisseur Kobie van Rensburg inszeniert die Geschichte als Glücksspiel. Auf riesigen Karten über den Köpfen des Orchesters wird via Projektion von Liebe, Betrug und Mord erzählt. Das Motiv stammt aus dem dritten Akt der Oper, in dem sich Carmen, Frasquita und Mercédès die Karten legen. Darüber hinaus findet sich aber auch die ganze Tragik Carmens im Thema des Kartenspiels wieder, denn sie glaubt, mit Strategie gewinnen zu können – bis ihr der Zufall dazwischen kommt.
Die vier Hauptpersonen Carmen, Don José, Escamillo und Micaëla werden im Video von Tänzer*innen aus der hauseigenen Compagnie gedoubelt. Alessandro Borghesani, Irene van Dijk, Chantal Hinden und Marco A. Carlucci sind dabei darstellerisch fast mehr gefordert als tänzerisch. Van Rensburg dosiert die Videoeinspielungen sehr geschickt und hat nicht den Ehrgeiz, alles durch zu erzählen. So bleibt der Fokus klar auf zentralen Augenblicken und Wendepunkten der Geschichte, die in den Bildern symbolisch und emotional verschärft werden.
Stimmen im Mittelpunkt
Das kleine Orchester und die zurückhaltende Inszenierung stellen auch besondere Anforderungen an die Sänger*innen. Nichts lenkt von den Stimmen ab, die zum vorherrschenden Darstellungsmittel werden. Eva Maria Günschmann überrascht in der Titelpartie. Erstaunlich kühl und abgeklärt klingt ihre Carmen. Was zunächst zu wenig leidenschaftlich klingt, entpuppt sich bald als Ausdruck großen Selbstbewusstseins und weiblicher Unabhängigkeit, gelegentlich gewürzt mit einer schönen zynischen Überlegenheit. David Estebans Don José ist ein strahlender Tenor, dem es in der Höhe allerdings an lyrischer Eleganz für das schwierige französische Fach mangelt. Der Bariton Rafael Bruck singt einen Escamillo, der nahezu perfekt ist. Die leichten Schwierigkeiten in den tiefsten Passagen der Partie gleicht er bravourös durch eine leidenschaftliche Geschmeidigkeit aus, die alle Sympathien auf seine Seite zieht. Sensationell ist Sophie Witte als Micaëla. So unglaublich rein, jugendlich und ehrlich klingt ihr Sopran, dass ihre unschuldige Verstrickung in die Geschichte unmittelbar erlebbar wird und eine tragische Größe bekommt.
Über die Schwierigkeiten, eine Bühnen-Produktion in Corona-Zeiten mit ständig wechselnden Bedingungen zu planen und umzusetzen, hat Dramaturgin Ulrike Aistleitner einen unaufgeregten, ehrlichen Text im Programm geschrieben. Der intime Einblick in die Arbeit und einige generellen Gedanken zum Theater in ungewöhnlichen Zeiten machen ihn unbedingt lesenswert.
Es ist gerade nicht die Zeit der großen Regiekonzepte und Neudeutungen. Da macht die Krefelder Carmen keine Ausnahme. Stattdessen geht es erstmal darum, die Möglichkeiten von Musiktheater unter den gegebenen Bedingungen überhaupt auszuloten. In dieser Hinsicht allerdings ist diese »Carmen« ein außerordentlich sehens- und bedenkenswerter Ansatz.
18., 20. und 22. September, 17. und 31. Oktober, 5. und 22. November, 9., 22. und 25. Dezember, Theater Krefeld, www.theater-kr-mg.de