Alles unter Vorbehalt. Alles »auf Sicht gefahren«, keine Versprechungen, nur Hoffnung. Nach der erschütternden Erfahrung im März dieses Jahres vertraut keiner mehr darauf, dass morgen noch gilt, was gestern verkündet ward. Und es spukt ja auch unverändert unter uns herum, das unsichtbar-winzige, tödlich-gemeine Virus, das urplötzlich die Straßen, Schulen, Kindergärten und eben: Bühnen leerfegte. Jetzt aber sollen auch die Virtuosen der Berührung, die Tänzer, endlich zurück in die Theater. Schließlich gibt es so manchen Newcomer unter den Ensembles der Stadttheater, von dem man bislang kaum was zu sehen bekommen hat. Beispiel: Hagen.
Der Stadt mit dem stets gezückten Spar-Rotstift, wenn es ums Theater geht. Immerhin war es gelungen, zu Beginn der vergangenen Spielzeit mit Marguerite Donlon eine renommierte Choreografin zu engagieren. Sie war es dann auch, die in der letzten, corona-verseuchten Spielzeit am kreativsten von allen Ballettchefs aufs Kontaktverbot reagierte und einen »Schwanensee-Prolog« auf die Bühne zauberte, in der sich Vogel und Prinz nur durch einen Plastikvorhang hindurch begrabbeln durften. Und ja, das passt! Denn leben sie nicht in zwei Welten, der menschliche Königssohn und das Zaubergeschöpf? Beruht ihre Liebe nicht ohnehin nur auf gegenseitigen Erlösungsfantasien, auf fiktiven Projektionen: Er will mit ihr dem verhassten Königshaus entfliehen, sie mit ihm ihrem Wildtierdasein? Der Ballettklassiker also nach allen Regeln der neudeutelnden Tragödie und: der Hygiene. Mit diesem »Schwanensee – Aufgetaucht – Prolog« startet Hagen nun erneut vorsichtig in die Post-Lockdown-Spielzeit. Der komplette »Schwanensee – Aufgetaucht« soll dann im Februar die Bühne fluten.
Klimawandel-Ballett in Köln
Vorhandenes kontaktsperren-konform adaptieren – das ist derzeit für viele die Lösung. Auch in Köln war gerade das Ballet of Difference von Choreograf Richard Siegal euphorisch begrüßt worden: Eine neue Kompanie in der tanzmuffeligen Großstadt, die sich jahrelang mit Gastspielen begnügt hatte. »New Ocean« hieß Siegals letztes Stück. Ein Klimawandel-Ballett, das er zur Spielzeiteröffnung gewissermaßen als »New New Ocean« coronagerecht recycelt. Er hat das Bühnenstück in eine performative Langzeit-Installation verwandelt, bei der die Tänzer unnahbar wie Eissplitter über Stunden das Schmelzen der Polarkappen tanzen, während die Zuschauer in der kalt-sperrigen Choreografen-Arktis umherwandeln. Klingt nach einem idealen Konzept, ja zynischerweise sogar nach einer Covid19-Optimierung des Originals.
Wohingegen sich sonst noch nicht abzeichnet, dass der Erreger auch eine Kreativitäts-Pandemie entfacht hätte. Das Aalto Ballett in Essen und das Tanztheater Wuppertal verheißen so gut wie gar nichts für die kommende Spielzeit. Das ist angesichts der dortigen rückwärtsgewandten Traditionen – da Cranko, Petipa und historische Van-Cauwenberghs, dort Pina Bausch – wenig überraschend. In Bielefeld und Gelsenkirchen hilft der Tanz erst mal in Musiktheaterproduktionen wie »The Black Rider« und »L’Orfeo« aus, ehe man hier wie anderswo mit spartenspezifischen Arbeiten den Corona-Schock therapiert.
Es gilt die psychosozialen Folgen der Krankheit zu verarbeiten. So widmen sich etwa gleich zwei Ensembles, Münster und Krefeld/Mönchengladbach, unter gleichlautendem Titel »Dis-Tanz« den Leiden des Abstands. Denn den Tanz als Körperkunst attackiert das Virus wie keine andere Sparte. Ihn trifft es nicht nur als Kunstform der menschlichen Begegnung, wie auch den Film und das Theater. Sondern zusätzlich unmittelbar in seinem Instrument, dem Körper. Schweiß und Atem sind ästhetische Mittel und Inhalt – nichts für Tröpfcheninfektionszeiten.
Die virtuellen Finanzmärkte als Streaming-Game
So sind es ausgerechnet die unpopuläreren Praktiken, die den Tänzern bleiben: Das Solo als Form der Zeit. Der bewegte, statt des gemütlich sitzenden Zuschauers. Die Unterstützung des aerosollastigen Live-Events durch sterile digitale Zwischenspiele. So will etwa auch Richard Siegal seine nächste Uraufführung »All for One and One for the Money« als Computerspiel inszenieren: Den globalen Kapitalismus, die virtuellen Finanzmärkte also als choreografiertes Streaming-Game. Klingt sehr plausibel. Aber wo bleibt das, was man am Tanz so liebt: die Sinnlichkeit, Erotik, Emotionalität der Körper?
All das wird Düsseldorfs neuer Ballettdirektor Demis Volpi mindestens als inszeniertes Begehren in seine Tanzabende integrieren: Er sucht das keusche »First Date« mit dem Publikum und flirtet mit Miniausschnitten aus seinen bisherigen Arbeiten die einsam auf die Sitzreihen des großen Opernhauses verteilten Zuschauer an. Man darf drauf wetten: Er wird Everybody’s Darling.
Theater Hagen: »Schwanensee – Aufgetaucht« – Prolog von Marguerite Donlon (5. September)
Theater Mönchengladbach: »Dis-Tanz« von Robert North (5. September)
Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf: »First Date« von Demis Volpi (11. September)
Theater Münster: »Dis-Tanz« von Hans Henning Paar (12. September)
Theater Bielefeld: »The Black Rider« (12. September)
Theater Dortmund: »Fordlandia« mit verschiedenen Choreografien (19. September)
Schauspiel Köln: »New Ocean Sea Cycle« von Richard Siegal (03. Oktober)
Musiktheater im Revier Gelsenkirchen: »L’Orfeo« mit der Choreografie von Gioseppe Spota (17. Oktober)