Köln, Hohenzollernbrücke, auf der Altstadtseite, am Übergang zum Heinrich-Böll-Platz. In grüner Patina sitzt hier Wilhelm II. auf hohem Ross und reitet domwärts. Seit Ende Juni attackieren Unbekannte das vom Berliner Bildhauer Louis Tuaillon errichtete Reiterdenkmal immer wieder. Eines Morgens war es mit roter und orangener Farbe besprüht. Laut Kölner Polizei hinterließen der oder die Täter an Denkmal und Brücke Transparente und Zettel: Mit Kritik an der »Rolle des Kaisers und der Kolonialisierung«. Nachdem die Abfallwirtschaftsbetriebe das Herrscherbildwerk gereinigt hatten, fand sich anderthalb Monate später eine neue Botschaft auf dem Sockel: »Weg damit!« Offensichtlich eine Protestaktionen von Kolonialismus-Kritikern. Wohl inspiriert von der weltweiten Denkmalsturz-Bewegung, die Anfang Juni in Bristol begann: Demonstranten versenkten eine Statue des englischen Sklavenhändlers Edward Colston im Hafen – angestoßen durch die Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA. Auch NRW debattiert nun über seine kolonialen Spuren im öffentlichen Raum. Wie soll man mit ihnen umgehen? Abmontieren, zerstören, stehen lassen oder Gegendenkmäler errichten? Die Denkmalsturz-Debatte hat aber nicht nur ein neues öffentliches, mediales und politisches Bewusstsein für das koloniale Erbe erzeugt, sondern auch die kolonialkritische Arbeit von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus dem Schatten geholt, in dem sie bislang standen. Vom Rheinland über das Ruhrgebiet bis hin nach Ostwestfalen finden sich Initiativen, die schon seit Jahren oder Jahrzehnten die lokale koloniale Vergangenheit erforschen und vermitteln.
Köln – eine der »Kolonialismus-Metropolen« Deutschlands
Beginnen wir in Köln, neben Berlin und Hamburg eine »Kolonialismus-Metropole«, wie die Afrikanistin Marianne Bechhaus-Gerst sagt. Sie zählt zu den ersten Wissenschaftler*innen, die in den frühen Nullerjahren den »Kolonialismus vor Ort« erforscht haben. »Köln war eine der größten Städte im Deutschen Reich um 1900. Insofern nahm es im sogenannten kolonialen Projekt immer eine führende Rolle ein. Es gab hier sehr früh Organisationen wie beispielsweise die Deutsche Kolonialgesellschaft«, sagt Bechhaus-Gerst. Auch viele Kölner Wirtschaftsmagnaten engagierten sich in der Kolonial-Bewegung: »Die vielen Schokoladenfabriken in Köln benötigten viele Rohstoffe aus den Kolonialgebieten, zum Beispiel Kakaobohnen.« Etwa die Gebrüder Stollwerck, die »Deutsche Kolonialschokolade« produzierten.
Marianne Bechhaus-Gerst gründete auch den Verein »KopfWelten – gegen Rassismus und Intoleranz«, der seit rund zehn Jahren das Projekt »Köln Postkolonial« betreibt. Zum Programm gehören Ausstellungen, Vorträge, Workshops oder Stadtrundgänge. Das Ziel: Verborgene koloniale Spuren in der Stadt sichtbar machen. Bechhaus-Gerst führt etwa durch das sogenannte Chinesen-Viertel in Ehrenfeld. »Hier gibt es die Lans-Straße, die Iltis-Straße und den Taku-Platz, die an den sogenannten Boxeraufstand von 1900 in China erinnern, wo eine alliierte Armee aus europäischen Verbündeten, einschließlich Deutschland, gegen den chinesischen Widerstand kämpften und siegten.« Wilhelm von Lans kommandierte das Kanonenboot »Iltis« beim Angriff auf die »Taku-Forts« im Chinesischen Meer.
Doch auch in »unverdächtigen« NRW-Städten lassen sich Verbindungen zur Kolonialgeschichte entdecken. Etwa in Hagen, am südöstlichen Rand des Ruhrgebiets. Die Historiker*innen Barbara Schneider und Fabian Fechner haben 2018 an der dortigen Fernuniversität das Seminar »Hagen postkolonial« angeboten und mit Studierenden einen Stadtplan und ein Buch herausgebracht. Das Interesse an der kolonialen Vergangenheit war in der Stadt so groß, dass aus dem Seminar ein Arbeitskreis hervorgegangen ist. Seine Mitglieder bieten auch postkoloniale Stadtspaziergänge an – ehrenamtlich. Da trifft man etwa auf ein Glasbildfenster in der einstigen Zentrale der Süßwaren-Firma Hussel. 1952 geschaffen vom Düsseldorfer Künstler Hans Slavos: »Es zeigt das Verpacken und Verladen von Kaffee an einer idyllisch-tropischen Küste, was unter den wachsamen Augen eines Verwalters stattfindet. Die Aufschrift ‚El Salvador‘ auf den Kaffeesäcken verweist darauf, dass der Firmengründer Rudolf Hussel zum Honorarkonsul des mittelamerikanischen Landes ernannt worden war – und dies wollte er den (möglichen) Handelspartnern im Besprechungsraum seines Firmenhauptsitzes auch zeigen«, erzählt Barbara Schneider. Eine »krude« Geschichte steckt hinter dem Privatmuseum des Hagener Brauereibesitzers Carl Horst Andreas: Auf Jagdreisen in afrikanische Kolonien sammelte er hunderte von exotischen Tierpräparaten, die er in seiner Privatvilla und seinen Büroräumen präsentierte. »Im Rahmen einer Stiftung wollte er sein Haus in ein Museum umwandeln. Doch weder die Stadt noch Hagener Schulen interessierten sich dafür. Der Verbleib der Sammlung ist seit dem Tod der Witwe nicht geklärt.«
Im rund 130 Kilometer entfernten Bielefeld war koloniales Denken und Handeln ebenfalls gang und gäbe. Daran erinnert die Initiative »Bielefeld postkolonial«, die Bürger*innen 2004 gründeten. Sie organisiert Ausstellungen, Vorträge, Filmreihen und Stadtrundgänge. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Frey führt mehrmals im Jahr zu Erinnerungsorten kolonialer Stadtgeschichte. Sie sind offensichtlich wie das Bismarck-Denkmal in der Grünanlage am Oberntorwall, aber auch verdeckt wie der Woermannsche Hof in Bielefeld-Mitte. In dem Fachwerkbau wohnte einst die Leinenhändlerfamilie Woermann: »Hier wurde Carl Woermann geboren, der 1837 in Hamburg ein Handelsunternehmen gründete und in den Überseehandel einstieg. 1847 startete er mit dem Kauf eines Schiffes als Reeder.« Sein Sohn Adolph machte die Reederei unter dem Namen »Woermann-Linie« weltbekannt. Über sie lieferte das Deutsche Reich Branntwein, Waffen oder Schießpulver an die Westküste Afrikas. Zudem initiierte Adolph Woermann »Schutzverträge« zwischen dem Deutschem Reich und kamerunischen Häuptlingen: »Kaufleute baten darum, den Handel militärisch zu schützen und überzeugten Otto von Bismarck davon, Marine nach Kamerun zu schicken. Es war eine eindeutig handelspolitische Entscheidung, diese Kolonie zu errichten«, erzählt Barbara Frey.
Doch auch wenn die postkolonialen Initiativen in NRW nun breiter bekannt werden, können sie nicht allein die Deutsche Kolonialgeschichte aufarbeiten. Vielmehr ist die gesamte Gesellschaft gefordert. Etwa Schulen. Dort »spielt der Kolonialismus eine viel zu geringe Rolle«, moniert Marianne Bechhaus-Gerst. »Das hängt damit zusammen, dass die Epoche des Imperialismus als unwichtig gewertet wurde.« Auch politisch könne gerade NRW seine machtvolle Position im Bund nutzen, meint die Kölner Afrikanistin: »Hier wären Chancen, Einfluss auf Berlin auszuüben und die Kolonialgeschichte auf die Agenda zu bringen.« In der Kommunalpolitik sind bereits Bemühungen erkennbar: In Köln haben mehrere Parteien die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit zum Wahlkampf-Thema erhoben. Bleibt abzuwarten, was die Kommunalwahl-Sieger letztlich aktiv umsetzen werden.
Wie aber sollen NRW-Städte mit »großen« kolonialen Denkmälern verfahren? Dem Reiterstandbild von Wilhelm II. in Köln oder der Bismarck-Statue in Bielefeld? »Dekonstruieren«, fordert Marianne Bechhaus-Gerst, »so dass man den Blick auf diese Denkmäler in irgendeiner Form irritiert. Das kann in künstlerischer Form geschehen, indem man sie einpackt, einfärbt oder niederlegt. Es muss eine Auseinandersetzung mit den historischen Hintergründen dieser Denkmäler provoziert werden.« Barbara Frey plädiert dafür, »ein Gegendenkmal neben ein Kolonialdenkmal zu stellen oder es in ein Museum zu verbringen, um es entsprechend zu entkontextualisieren und zu kommentieren«. Auf ein Beispiel, wie man mit problematischen Denkmälern umgehen kann, verweist die Historikerin Caroline Authaler, die in Düsseldorf postkoloniale Rundgänge anbietet. Vor der Tonhalle befindet sich das Kriegerdenkmal »Innere Festigung« für die Gefallenen des 39er-Regiments der Preußischen Armee. Der Bildhauer Jupp Rübsam hat es 1928 antiheroisch angelegt: Ein Soldat hält die Hand seines verwundeten Kameraden. Die Nationalsozialisten bauten das Denkmal ab. Beim Einlagern kam es zu Bruch. »Später wurde es in dieser absichtlich nicht restaurierten Form wieder aufgebaut«, sagt Authaler. Ein Denkmal aus collagierten Torsi, an dem seine Geschichte ablesbar ist.
Informationen zu den postkolonialen Aktivitäten in Köln finden sich unter http://www.kopfwelten.org,
in Düsseldorf www.deutschland-postkolonial.de
in Hagen unter https://www.fernunihagen.de/universitaet/aktuelles/2019/08/kolonialismus-in-hagen.shtml,
in Bielefeld unter http://www.stadterkundungen-bielefeld.de/erkundungen/kolonialgeschichtlicher-stadtrundgang/