Ein Samstagmorgen an der Stadtbahn-Haltestelle »Ikea am Butzweilerhof« in Köln-Ossendorf. Sonne wechselt sich mit Wolken ab. Es ist warm. Die riesige blaue Box des schwedischen Möbelhauses ist nur einige hundert Meter entfernt. Drum herum Parkplätze, Brachen, Wildwiesen, Kräne, Baugruben, Rohbauten, Industrie- und Gewerbegebäude, Bürohäuser und Wohnblöcke. Hier befand sich einst der Flughafen Butzweilerhof, der zweitgrößte Flugplatz des Deutschen Reichs und »Luftkreuz des Westens«. Nun ist das Gelände im Wandel. Das Gewerbeareal wird erweitert, Wohnquartiere werden entstehen. Ikea ist die vorletzte Haltestelle der Linie 5. Allein dadurch fühlt sich Ossendorf an wie das Ende von Köln. Ein Ort, den man wohl nur aufsucht, um einzukaufen oder zu arbeiten. Ein typisches Gewerbegebiet eben. Touristen, aber auch Einheimische würden wohl nicht so schnell auf die Idee kommen, sich den nordwestlichen Kölner Stadtteil näher anzuschauen.
Reiseführer Boris Sieverts hingegen betrachtet Ossendorf als eine »der reizvollsten Landschaften auf Kölner Stadtgebiet«. Um das zu demonstrieren, hat er mit dem Musiker Frank Dommert und Künstler Ralf Schreiber eine Tour entwickelt: »Nicht alle Wege führen zu Ikea.« Sechs Stunden lang wird er eine 20-köpfige Reisegruppe durch die Randzonen der Stadt lotsen – fern von schönen Zentren mit Marktplatz, Fußgängerzone und historischen Gebäuden. Sieverts erforscht Orte, die der stadtplanerischen Kontrolle abhandengekommen sind, Orte, die wir als hässlich empfinden, Orte, vor denen wir uns vielleicht sogar fürchten. Sein Ziel? Es geht um die Poesie dieser »Terra incognita«.
Wir schreiten gen Ikea, durch das Parkhaus, hinein in die Lagerhallen. Danach wandern wir über den weiten Parkplatz, überqueren eine Hauptstraße und begeben uns in wilde Natur. Trampelpfade führen durch Wäldchen und Wiesen mit Sanddornbäumen und Distelfeldern. Häufig kämpfen wir uns mit Händen und Füßen durchs Dickicht – Urwaldgefühl mitten in der Großstadt. In der Ferne tauchen immer wieder Gebäudetrakte auf: Etwa die Glas-, Stahl- und Beton-Container des Coloneums, dem Fernsehstudioareal, wo auch RTL seit 1999 eine Produktionsstätte betreibt. Markant ist das blaue Einhorn, das vom Dach der MMC Studios in den Himmel galoppiert. Später passieren wir dieses »Medienzentrum«. Dann stoßen wir inmitten einer Wiese auf eine Flüchtlingsunterkunft. Mehrere Leichtbauhallen, umgittert, wie ein Käfig. Drinnen sitzt ein Bewohner auf einer Bank, mit nacktem Oberkörper, nach vorne gebeugt. Sein kleiner Sohn läuft ihm entgegen.
Wer Sieverts Tour damals, im Spätsommer 2017, mitgemacht hat, wurde auch Zeuge einer verschwindenden Landschaft. Trat man etwa aus einer Wohnsiedlung auf das riesige alte Rollfeld vor dem langgezogenen weißen Flughafengebäude, tat sich wohltuende Weite auf. Nur Beton und Brachengrün. Inzwischen ist es ein umzäunter Park mit Spielplätzen und ein paar Bäumchen. Umrandet von mehreren neu errichteten Wohnblocks. Es ist enger geworden, die Luftigkeit ist dahin. Im alten Flughafengebäude befindet sich nun »Motorworld Köln«, ein Dienstleistungszentrum für Automobil-Liebhaber.
Die Aura von Zwischenorten hängt aber auch vom Moment ab. So beim Mittagspicknick in einem Birkenwäldchen an einem schilfumsäumten Weiher. Plastikplanen dienen als Decke, Boris Sieverts schneidet Salami, reicht Oliven herum. Idyllische Weiher-Wildnis. Sie liegt in einer Senke, umzogen von zwei verkehrsreichen Hauptstraßen und einer Autobahn. Motorenrauschen dringt herab. Würde ich alleine hier sitzen, wäre mir wahrscheinlich nicht so behaglich zumute. Die dichte Vegetation macht den Ort unübersichtlich, ich würde mich wohl fragen, wer sich hier sonst noch aufhalten könnte. Angst vor Gefahr würde immer mitschwingen.
»Gestaltung nimmt Orten den Schrecken, den sie haben können. Aber auf Kosten der Freiheit.«
Boris Sieverts
Seit 1997 betreibt er in Köln sein »Büro für Städtereisen«. Führte schon durch die sogenannten »Niemandsländer« von Paris, Marseille, Leipzig, Duisburg, Siegen, Coesfeld oder Borken. Zu seinen Wanderungen in Warschau hat Filmemacherin Christiane Büchner eine Dokumentation gedreht, die im Fernsehen und im Kino lief. Der 1969 in Berlin geborene Sieverts hat zwar an der Kunstakademie Düsseldorf bei Bildhauer und Maler Gerhard Merz studiert, aber als Künstler will er nicht bezeichnet werden. »Ich nenne mich lieber Reiseführer«. Und ob seine Spaziergänge zu den Stadtrandzonen Kunst seien, darüber diskutiert er ungern. »Für mich geht es einfach nur um die Frage: Ist es gut oder schlecht.« Für ihn gebe es ein »bestimmtes Maß der Qualitätsüberschreitung«, heißt im Falle seiner Städtereisen: Er tüftelt sie so gründlich aus, bis er sie für gut hält.
Am Anfang seiner unkonventionellen Expeditionen standen mehrere Erlebnisse: Als Student arbeitete er als Schäfer in Frankreich, im Département Ardèche, wo er die Schafe durch halb verstädterte Landschaften führte. Alte Nationalstraßen, hineingebaut in Kulturlandschaften aus alten, nicht mehr bewirtschafteten Olivenhainen, rechts und links verlassene Gewerbegebiete. Sieverts habe die Schafe durch die aufgegebenen Olivengärten geleitet, ebenso über Parkplätze vor leerstehenden Baumärkten oder Tankstellen. »Es war sehr interessant, diese Landschaft mit den Schafen zu erleben. Bei der Tankstelle oder dem Baumarkt zählt plötzlich nicht mehr das Gebäude, sondern der Parkplatz als Zwischenraum, der es ermöglicht, mit den Schafen zu dem nächsten ehemaligen Olivenhain zu kommen.« Mit diesem neuen Blick kehrte er zurück in die rechtsrheinischen Stadtrandlandschaften von Humboldt-Gremberg in Köln, wo er bereits als Schüler aufgewachsen war. Außerdem prägte ihn die zeitgenössische Landschaftsfotografie der Becher-Klasse, die in der Düsseldorfer Kunstakademie auf derselben Etage angesiedelt war wie die seines Lehrers Gerhard Merz.
Nicht zuletzt arbeitete Sieverts auch für verschiedene Kölner Architekturbüros. »Dort sind solche Stadtrandzonen immer nur als Schandfleck oder Gewerbebauland betrachtet worden. Das hat mich irritiert, weil für Künstler der Reiz dieser Orte immer völlig auf der Hand lag. Da dachte ich: Musst du denen das mal zeigen.« So veranstaltete Sieverts die ersten Städte-Touren für Architekten, Stadtplaner und Künstler. Seine Routen komponiert Sieverts anhand von drei Haupt-Instrumenten: Vor Ort exzessiv herumlaufen, die deutsche Grundkarte und Google Earth. »Auf der Grundkarte wird jedes einzelne Haus und jede Grundstücksgrenze sichtbar. Google Earth zeigt Oberflächenstrukturen, etwa Kaninchenwelten oder Trampelpfade auf ehemaligen Deponien.« Hinzu kommen praktische Regeln, zum Beispiel: Nie dort rausgehen, wo man reingekommen ist. Das gelte für öffentliche Räume, aber auch für Gebäude. Zudem teilt Sieverts ein Gebiet in sogenannte gefühlte Bereiche ein. Bei der Ossendorfer Tour wären das etwa die Ikea-Filiale, die Wildwiesenfläche oder das einstige Flughafengelände.
Inzwischen reagieren Stadtplaner zwar verständnisvoller auf urbane Randzonen, doch sei es wichtig, die Kunst der Wegeführung auch an Hochschulen zu lehren. Bislang passierte das nicht. Also hat Sieverts gemeinsam mit Reiseführern aus anderen europäischen Städten die »Metropolitan Trails Academy« gegründet, eine Online-Akademie, an der man »systematisches Stadtwandern« erlernen kann. Ein wichtiger Schritt. Denn wer eine Städtereise mit Boris Sieverts mitgemacht hat, erkennt, dass urbane Randzonen mehr sind als urbane Randzonen. Sie machen deutlich, wie komplex die landschaftlichen und baulichen Zusammenhänge einer Stadt sind. Und das sie Orte der Überraschungen sind, der Geheimnisse, der Abenteuer, der Sehnsüchte.
Wer sich für Expeditionen mit Boris Sieverts interessiert, kann sich unter http://www.neueraeume.de/ für einen Newsletter anmelden, über den er Termine zu neuen Touren verschickt.