Sozialdramen sehen zumeist anders aus, einfacher und nüchtern: Reporte des Alltags. Es sind keine Vergrößerungen, die den Schrecken, das Fatale eines gesellschaftlichen Zustands und eines Lebens derart ins Bild fassen: ein Rinnsal Blut, das eine Wand herabtropft, eine zerbrochene Kachel und Türklinke, ein zerschlissener Fetzen Sofastoff in Detailansicht, der auf den Putz mit Kinderhand gekrakelte Name Tobias. Nach 15 Minuten liegen ein Toter, für den die Wohnung 40 Jahre Heimat und Erinnerung an seine Familie bedeutete, und ein an einen Heizkörper gefesselter Verletzter in den abbruchreifen Zimmern. Das Haus im Osten Berlins wird luxussaniert, das Gas wurde bereits vor Monaten abgestellt, aus dem Wasserkran kommt schwarze Brühe, Fenster und Schornsteine sind zugemauert, die Badwände herausgerissen, Handwerker in dem Gebäude zugange.
Herr Franke als Geisel
Nach und nach erschließt sich die Vorgeschichte. Nach dreijährigem Konflikt sind nun die Kisten gepackt. Die Polizei überwacht die Räumung und den Auszug der verbliebenen Bewohner. In der Wohnung von Herrn Heine kommt es zur Auseinandersetzung, ein Schuss fällt. Der alte Mann hat sich umgebracht. Sein Sohn Tobias (Matthias Ziesing), der als Klempner arbeitet, schlägt in Verzweiflungswut den Sohn der Makler- und Immobilien-Unternehmerin (Moritz Heidelbach) nieder, nimmt diesen Herrn Franke als Geisel – und kurz darauf noch eine junge Polizistin (Pegah Ferydoni) – und erfährt, dass sein Vater angeblich den Keller mit Gasflaschen gefüllt hat, um das Haus in die Luft zu sprengen. Der alte König in seinem Reich hatte herausgefunden, dass die Immobilienfirma für das Großprojekt öffentliche Fördergelder betrügerisch eingestrichen hat. Eine SEK-Einheit zieht auf. Die Situation eskaliert, entsprechend den Wendemanövern eines Thrillers, der dabei jedoch nie sein Thema und dessen gesellschaftspolitische Relevanz aus den Augen verliert. »Ich handle den Umständen entsprechend.«, sagt die Immobilienunternehmerin zu ihrer Rechtfertigung. Tobias Heine wiederholt es mit anderem Sinngehalt. Der Satz ist die zentrale Aussage des außergewöhnlichen Films, der eine nach Recht und Ordnung funktionierende freie Marktwirtschaft offenlegt, anklagt und zur Explosion bringt, als sähe Berlin aus wie New York Nine Eleven.
»Der letzte Mieter«, Regie: Gregor Erler, D 2020, 95 Min, Start: 13. August 2020