Zeitgenössischer Humor
2002 kam die weißrussische Komponistin Oxana Omelchuk nach Köln. Schon bald fand sie in Johannes Fritsch einen Kompositionslehrer, der es nicht so mit der strengen Neue-Musik-Lehre hatte. Ab dem allerersten Stück der Oxana-Porträt-CD mit Werken von 2004 bis 2018 begegnet man daher nun einer Musikerin, die mit ihren eigenen Klangerinnerungsstücken experimentierfreudig und ideenreich umgeht. Auf das skurril jazzy aufgeladene »Quodlibet« folgt »Wow and Flutter« für zwei Posaunen und Ensemble, bei dem sie ein bizarr postmodernes Panorama von Ragtime bis Schaljapin präsentiert. Auf der Bonus-DVD wird man zudem Augen- und Ohrenzeuge von »Staahaadler Aff«, für das ein auf einem Musikautomat stehendes, mehrere Instrumente spielendes Äffchen Pate stand. Nun schlüpft die Perkussionistin Rie Watanabe in diesem bunten Hör- und Schauobjekt virtuos in die Rolle einer »Ein-Frauen«-Musikband – und grüßt dabei von Ferne Mauricio Kagels legendäres »Zwei-Mann-Orchester«.
Oxana Omelchuk: Sieben Intraden, Intermezzi 1-4, Wow and Flutter, Ballare, Staahaadler Aff u.a.; Ensemble Musikfabrik, Schlagquartett Köln u.a. Wergo/Naxos WER64302
Subtiles Haudrauf
Bei Percussionstücken mit griechischen Titeln muss man zwangsläufig an den Säulenheiligen aller Schlagzeuger denken, an Iannis Xenakis. Von den nun fünf Schlagzeugstücken weisen immerhin »Póthos«, »Hímeros« und »Erosfragmente« auf die Platon-Lektüre des einstigen Avantgardisten Nicolaus A. Huber hin. Doch diese Stücke, die für einen Percussionisten bzw. für Harfe, Percussion, Lautsprecher und CD-Playback entstanden sind, haben mit den exzessiven Attacken von Xenakis wenig gemein. Vielmehr erkunden diese »griechischen« Piècen eher mikrokosmisch den Farbnuancenreichtum des Percussionequipments, der Metall-, Holz- und Fellinstrumente. Vom legendären Essener Folkwang-Kompositionsprofessor Huber haben vier Schlagzeuger (darunter Dirk Rothbrust von der Kölner Musikfabrik) noch zwei weitere Stücke aufgenommen; darunter das »Fingercapriccio«, das auf Bongo-Trommeln gespielt sich als archaisch anmutendes Einzelton-Mobile entpuppt.
Nicolaus A. Huber: Percussion Pieces; Domenico Melchiorre, Dirk Rothbrust u.a., Neos/Harmonia Mundi NEOS 11823
Mahler-Beben
Es gibt auch in der Musikgeschichtsschreibung hartnäckige Gerüchte, die sich bis in die Gegenwart hinein gehalten haben. Eines lautet, dass Gustav Mahlers 6. Sinfonie bei ihren Erstaufführungen keinen Erfolg gehabt haben soll. Dabei applaudierte das Publikum in München und Wien sogar nach jedem Satz vor Begeisterung. Und nicht nur die Uraufführung in Essen am 27. Mai 1906 wurde mit »jubelndem und dauerndem Beifall« bedacht. Wie die »Dortmunder Zeitung« berichtete, feierten schon bei der Hauptprobe »tausend Hände minutenlang« das abendfüllende Opus. Fast auf den Tag genau 113 Jahre später, im Mai 2019, war das Essener Konzertpublikum erneut aus dem Häuschen – angesichts einer spannungsgeladen knisternden wie klangkulinarisch luxuriösen Aufführung der auch als »Tragische« bezeichneten Sechsten durch die Essener Philharmoniker unter ihrem Chef Tomáš Netopil.
Gustav Mahler: 6. Sinfonie; Essener Philharmoniker, Tomáš Netopil, 2 CDs, Oehms/Naxos OC 1716
Landschaft en miniature
Natürlich fielen auch einem Beethoven die reifen Früchte nicht einfach in den Mund. Alles musste immer wieder hart erarbeitet werden. Um den Verkaufserlös seiner Werke zu steigern, arrangierte er so manchen Orchestercoup schon mal für die hausmusikalische Besetzung. So richtete er seine 2. Sinfonie für Klaviertrio ein. Mit dieser Fassung hat das Beethoven Trio Bonn bereits im Frühjahr seine Einspielungsserie mit Beethovens Klaviertrios fortgesetzt. Jetzt liegt der dritte Teil vor. Diesmal folgt auf das »Gassenhauer-Trio« die Bearbeitung der 6. Sinfonie aus der Feder von Christian Gottlieb Belcke. Der Beethoven-Zeitgenosse hat die als »Pastorale« bekannte Sechste äußerst apart und erstaunlich farbenreich für Klavier, Violine und Cello gesetzt. Dank der drei Bonner Musikanten hört man diese Gassenhauer-Sinfonie tatsächlich jetzt mit etwas anderen Ohren.
Ludwig van Beethoven: Klaviertrio op.11, Sinfonie Nr. 6; Beethoven Trio Bonn, Avi/Harmonia Mundi 8553114
Bye Bye, Wayne!
Als Wayne Marshall 2014 sein Amt als Chefdirigent des WDR Funkhausorchesters antrat, begann eine musikalisch lebhafte Zukunft. Denn der Brite ist als Dirigent, Organist und Pianist ein Allrounder, wie er im Buche steht. Leider nur war diese Ära von kurzer Dauer. Mit Ende der aktuellen Spielzeit verlässt Marshall sein Orchester wieder. Als Abschiedsgeschenk ist nun die CD »Born to Play« herausgekommen, auf der er sich mit seinem Musikerteam den Schnittstellen zwischen Klassik, Jazz und sogar Bossa Nova widmet. Den Anfang macht eine »Brazilian Fantasy«, die auf Bearbeitungen von Klassikern wie »Corcovado« von Antonio Carlos Jobim fußt. Vom kubanischen Jazz-Saxophonisten Paquito D´Rivero erklingt eine bunte Varieté-Nummer mit dem Titel »The Elephant and the Clown«. Beim Rausschmeißer dann, bei Gershwins »Rhapsody in Blue«, lässt es Marshall auch an den schwarzen und weißen Tasten abschiedpartygleich mächtig prickeln!
»Born to Play«, WDR Funkhausorchester, Wayne Marshall, Avi/Harmonia Mund 8553007
Evergreen – durchgeputzt
Was die Präsenz auf dem Plattenmarkt angeht, dürfte Mussorgskys »Bilder einer Ausstellung« in der Orchestrierung von Maurice Ravel fast an Vivaldis »Vier Jahreszeiten« und Beethovens Fünfte heranreichen. Kann man diesen Evergreen daher überhaupt noch aufregend neu spielen? Aber ja doch! Das vom Kölner GMD Franҫois-Xavier Roth gegründete Originalklang-Orchester Les Siècles macht es jetzt auf derart fulminante Weise vor, dass man glaubt, ein völlig unbekanntes Stück zu hören. Aber allein schon die Instrumente aus der Entstehungszeit der Ravelschen Einrichtung sorgen eben für Klangfarben, die im Normalfall von modernen Orchestern einfach nur effektvoll dick aufgetragen bzw. zugekleistert werden. Bei Roth & Co. hingegen steckt alles auch voller Charme und Esprit. Nicht weniger umwerfend gelungen ist Ravels Walzer-Apotheose »La Valse«, die jetzt trotz ausmusizierter Clarté unwiderstehliches Fin-de-Siècle-Parfüm verströmt. Fantastique!
Mussorgsky/Ravel: Bilder einer Ausstellung, La Valse; Les Siècles, Francois-Xavier Roth, Harmonia Mundi 905282