Der Ort könnte kaum besser sein: W 106 heißt der Raum in der Abtei Werden. Der alte Kinetografie-Saal gehört zu den wenigen der Folkwang Universität, die noch nicht renoviert wurden. Hier lehrte schon Kurt Jooss, der die Hochschule mitbegründete. Tradition steckt in allen Ecken. Tradition? »Ich weiß nicht, ob ich das Wort mag. Es klingt so festgefahren.« Henrietta Horn, Tänzerin, Choreografin, Lehrende, bis 2008 Leiterin des Folkwang Tanzstudios, spricht lieber von Erbe. »Erbe hat mit der eigenen Identität zu tun, ob man will oder nicht. Man setzt sich immer damit auseinander, in manchen Lebensphasen mehr, dann wieder weniger, mal konfrontativ, dann geht man auf Distanz. Aber man wird es nicht los und das ist auch gut so.«
Die Choreografin Henrietta Horn ist in ihren Arbeiten unbedingt zeitgenössisch, forscht an der Verbindung von Video und Bewegung, experimentiert mit Improvisation und hat mit »Auftaucher« selbst ein Stück geschaffen, das längst zu den Klassikern des Modernen Tanzes gehört. Wie passt da die Beschäftigung mit den Arbeiten von Mary Wigman zusammen, die den deutschen Ausdruckstanz ab den 1920er Jahren begründete?
»Zum Verzweifeln wenig Material«
»Als mich Patricia Stöckemann, die lange das Wigman-Archiv verwaltete, fragte, ob ich mit ihr an Rekostruktionen arbeitet wollte, war ich zunächst nicht begeistert.« Ausgerechnet »Sacre du printemps« sollte es sein. »Ich habe Sacre selbst bei Pina Bausch getanzt und danach in vielen anderen Choreografien gesehen und musste immer wieder feststellen, dass Pina in ihrer Version alles gesagt hat.« Stöckemann konnte Horn dann doch überzeugen. Oder mehr noch: das Material. Das war nämlich relativ dünn. Es gibt von Wigmans Choreografie kaum Filmaufnahmen, keine kinetografische Niederschrift, nur einige Fotos und Notizen. Und die Erinnerung der letzten Zeitzeuginnen. »Bei Sacre war es wirklich zum Verzweifeln wenig Material. Hinzu kam, dass die große Solopartie der Auserwählten von Dore Hoyer – der zweiten großen Dame des deutschen Ausdruckstanzes – selbst choreografiert wurde, wovon es quasi nichts gab.«
Die Lücken im Material, die Notwendigkeit der eigenen Kreativität in der Rekonstruktion weckten letztlich Horns Begeisterung für das Projekt mit den Theatern Bielefeld und Osnabrück. Eine weitere Rekonstruktion von Wigmans »Totentänzen« folgte. Wobei der Begriff »Rekonstruktion« in die Irre führt. »Wir reden da nicht von Fakten, sondern vom Umgang mit dem Material, von Interpretation. Was entsteht, ist eine zeitgenössische Arbeit.« Im Fall von »Sacre« ist sich Horn sicher, dass das Ergebnis bei den Gruppentänzen nah am historischen Werk ist, die Solos allerdings sind echte Neuchoreografien aus dem Geist des Originals.
»Es ist wichtig, diese Stücke aus den Archiven auf die Bühne zurückzuholen, um sich damit auseinandersetzen zu können.« Horns Beschäftigung mit Wigman und ihre Arbeit an der Folkwang Universität prädestiniert sie nun, die Einstudierung der legendären Kurt-Jooss-Choreografie »Der grüne Tisch« aus den 30er Jahren zu übernehmen. Wirklich? »Es ist natürlich eine riesige Ehre, dass ich gefragt wurde, ich bin aber gar nicht sicher, ob ich die richtige Person dafür bin.« Tatsächlich liegt hier der Fall anders als bei den Wigman-Stücken. Kurt Jooss leitete bis zu seinem Tod 1979 die Einstudierungen selbst, seine Tochter Anna Maria Markard-Jooss unterstützte ihn dabei und nötigte ihn, sich bei jeder einzelnen Bewegung auf eine Ausführung festzulegen, die von der Assistentin Jeanette Vondersaar in einer akribischen kinetografischen Partitur festgehalten wurde. Basis jeder Neueinstudierung.
Es fehlt also der kreative Prozess, die gemeinsame Annäherung und Erforschung von historischen Bewegungen mit den Tänzer*innen von heute, die die Arbeit an den Wigman-Rekonstruktionen für Horn so wertvoll machten. »Die Bewegungen bei Wigman waren nicht virtuos. Da gibt es auch ganz einfache Gänge über die Bühne, aber dazu muss eine Haltung entwickelt werden. Für Tänzer*innen von heute kann die Einfachheit physisch sehr schwer zu verstehen sein.«
Wie gehe ich an Bewegung heran?
Die Kernfragen, mit denen sich Henrietta Horn immer wieder beschäftigt, sind also: Wie gehe ich an Bewegung heran, was drückt Bewegung aus, wie erlebe ich Bewegung? »Mich treibt seit vielen Jahren schon die Frage um, was Folkwang-Tanz eigentlich ist. Was ist das Spezielle, das Signifikante daran? Das bewegte mich schon als Studierende, dann gab es Phasen in meinem Leben, wo ich das nicht mehr hören wollte, aber jetzt kommt es zurück.« Wie schafft es das Folkwang-Erbe, Generationen von Tänzer*innen und Choreograf*innen hervorzubringen, die in ihrer künstlerischen Entwicklung ganz frei sind und trotzdem Folkwang-Tanz weitertragen? Es ist wohl der feine Unterschied – zwischen Tradition und Erbe.