Ob diese Inszenierung das Theater der Zukunft einläuten wird, darüber lässt sich trefflich streiten. Aber eins dürfte unstrittig sein: Jonathan Meeses wilde, mit Tabus spielende »Diktatur der Kunst«-Performance hat eine gloriose Vergangenheit. Eine direkte Linie führt von den Fluxus-Happenings, den Inszenierungen der Wiener Aktionisten und Beuys’ Kunstaktionen über Christoph Schlingensiefs Arbeiten an der Berliner Volksbühne zu »Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer selbst«. Knapp drei Stunden lang verlieren sich Meese und seine Mitstreiter Maximilian Brauer, Henning Nass, Uwe Schmieder, Bernhard Schütz, Lilith Stangenberg und Anke Zillich in exzessiven Improvisationen, die um Deutschland und Demokratie, Kunst und Terror, Richard Wagner und John Boormans Science-Fiction-Vision »Zardoz« kreisen. Und natürlich erhebt nicht nur Meese immer wieder den meist in einer schwarzen SS-Uniformjacke steckenden rechten Arm.
Die Diktatur der Kunst
Auf den ersten Blick hat das alles sehr viel mit den Obsessionen des Künstlers und nur wenig mit Nabokovs Roman »Lolita« zu tun. Dabei senkt sich zu Beginn des Abends erst einmal der Eiserne Vorhang und schafft eine Projektionsfläche für ein Video, in dem Meeses Mutter mal stockend, mal ironisch wissend eine ausführliche Inhaltsangabe des Romans verliest. Damit ist das erledigt. Auf elegante Weise räumt Meese so erst einmal allen inhaltlichen Ballast beiseite. Danach ist die Bühne frei für alle nur erdenklichen Aktionen. Etwa das theatrale Ritual, in dessen Verlauf sich das Ensemble in Kreuzritter*innen der Kunst verwandelt. Sie alle streben nach dem Gral höchster Freiheit und finden ihn im Rausch des reinen, weder vor Wiederholungen noch vor Albernheiten zurückschreckenden Spiels.
Ein paar Verabredungen gibt es offensichtlich schon. So eignet sich das Ensemble erst einmal eine riesige, von der Decke herabhängende Nachbildung eben jenes Bleistifts an, mit dem Nabokov seinen Roman geschrieben hat. Die Hoffnung, dass etwas von seiner kompromisslosen Kreativität auf sie übergeht, erfüllt sich auf jeden Fall. Wie Nabokov lassen auch die Spieler*innen auf der Bühne die engen Grenzen, die ihnen von den Konventionen der Kunst wie der Gesellschaft gezogen werden, schon bald hinter sich. Jeder macht weitgehend, was ihm gerade einfällt, und reagiert spontan auf die Spielangebote der anderen. So entstehen immer wieder Momente, die alle vorgefassten Bilder und Meinungen sprengen.
Schrankenloses Spiel mit der NS-Symbolik
Einmal zählt Lilith Stangenberg all die jungen Frauen auf, die mit Lolita-Rollen zu Stars geworden sind. Natürlich waren sie auf der Leinwand Projektionen eines männlichen Blicks, aber genau das war ihre Waffe. Wer sich die Figur der Lolita wie Stangenberg in diesem Moment aneignet, befreit sich in Meeses Kosmos. Das Gleiche gilt für die SS-Uniformen und den Gruß mit dem ausgestreckten Arm. Im schrankenlosen Spiel mit den Versatzstücken der NS-Symbolik offenbaren sich die Absurdität und der Wahnsinn nationalistischer Ideologie. Das ewige Wechselspiel von Meese, der den Arm erhebt, und Stangenberg, die ihn wieder herunterdrückt, wird zum cartoonhaften Treiben, das ein befreiendes Lachen provoziert. In der »Diktatur der Kunst«, die diese Inszenierung auf komödiantische Weise propagiert, hat alles außer realer Gewalt seinen Platz, Grell-Brachiales ebenso wie leise Poesie.
21. März, 3. und 25. April 2020, Schauspielhaus Dortmund www.theaterdo.de