Nach beinahe sechs Stunden kommt der erlösende und vernichtende Befund. Bruno Cathomas zitiert den russischen Kosmonauten Juri Gagarin mit den Worten: »Dunkel, Genossen, ist der Weltraum, sehr dunkel.« Dann verlischt das Licht, und der riesige Saal, mit dem Aleksandar Denić die gesamte Breite der Bühne gefüllt hat, verschwindet im Schatten der Nacht, die sich über Europa legt. Nicht nur der Weltraum ist sehr dunkel, die Erde selbst ist auch ein finsterer Ort.
Einer, der ganz tief in die deutsche und europäische Dunkelheit zu Beginn des 20. Jahrhundert eingetaucht ist, war Carl Sternheim. In seinen Komödien, die vom unaufhaltsamen Aufstieg der Kleinbürgerfamilie Maske erzählen, gleichen die höchstökonomischen Dialoge einem Skalpell, das jede verklärende Empfindung präzise wegschneidet und eine rein auf Gewinn und Verlust fixierte Gesellschaft sichtbar werden lässt. In »Europa«, seinem einzigen Roman, überhitzt er die Sprache so lange, bis sie zu bersten scheint. In extrem expressiven Sätzen erzählt Sternheim die Geschichte der millionenschweren Erbin Europa Fuld, genannt Eura, die 1871 geboren wird und sich in die gesellschaftlichen und politischen Revolten ihrer Zeit stürzt. Das Kühl-Kalkulierte der Komödie weicht exzessiver Selbstverschwendung.
Die beiden Pole des Sternheimschen Werks sind auch die Pole, zwischen denen sich Frank Castorfs Theaterarbeiten bewegen. Wenn er in Köln seiner Adaption von »Europa« mit vier, aus dem Zyklus »Aus dem bürgerlichen Heldenleben« zugerechneten Komödien verschneidet, entsteht daraus ein geradezu archetypischer Castorf. Von den Komödien bleiben nur einzelne Szenen, in denen es nur um den ökonomischen Nutzen von Liebes- und Familienbeziehungen geht. Als der von Peter Miklusz gespielte Christian Maske einer langjährigen Geliebten vorrechnet, was er ihr schuldig ist, demaskiert sich das kleinbürgerliche Krämerdenken der sogenannten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten Deutschlands. Es ist ein Moment in Castorfs Inszenierung, in dem man eine Stecknadel fallen hören könnte. Die Abrechnung des Heuchlers und Emporkömmlings wird zur Abrechnung mit dem europäischen System.
So klar und kalt die Komödien-Szenen daherkommen, so exzessiv sind die »Europa«-Passagen der Inszenierung. Lilith Stangenberg geht als Eura immer wieder an ihre Grenzen und darüber hinaus. Schon ihr etwa halbstündiger Eröffnungsmonolog, in dem Sternheims Heldin von ihrer sexuellen Befreiung in Paris berichtet, ist eine wahre Tour de force. Stangenbergs Rebellin ist die letzte Hoffnung Europas. Aber am Ende ist sie so tot wie die Ideale, die sich dieser Kontinent einmal auf die Fahne geschrieben hat.
7., 9. und 29. Februar 2019 im Depot, www.schauspiel.koeln