Diese Frau muss man bewundern: Abby Turner (Debbie Honeywood), Ehefrau, Mutter zweier Kinder, tätig im Altenpflegedienst, bepackt mit Alltagssorgen, besitzt eine Lebensklugheit und mitfühlende Teilnahme, ohne die ihre Familie nicht bestünde. Und sie nimmt sich auch noch Zeit, mit jedem ihrer Patienten bzw. »Klienten« nicht bloß nach der Uhr umzugehen und die Verwirrten, Vereinsamten, Vernachlässigten, so gut es geht, nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Denn Zeit ist Geld, die Taktung eng, dass sie kaum ein privates Wort erlaubt. Ihr Auto hat sie verkauft, damit ihr Mann Ricky (Kris Hitchen) sich den Lieferwagen für den Paketdienst anschaffen kann, mit dem er sich als Kurierfahrer selbständig macht, doch ebenfalls von der elektronischen Fessel gebunden bleibt, die keine privaten Notsituationen anerkennt, sondern nur die Effizienz punktgenauer Auslieferung und die Statistik des Waren-Depots. Rick arbeitet auf eigenes Risiko. Für die Bilanz sorgt, mit dem Gemüt einer Bulldogge, Vorarbeiter Maloney, der für Sozialfürsorge keinen Deut übrig hat. »Was ist aus dem Acht-Stunden-Tag geworden?«, fragt eine alte Dame Abby. Manchmal zwölf, manchmal sechzehn Stunden. Die mobile und ambulante Gesellschaft ist ganz verhetzt und entkräftet.
Sohn Seb(astian) hat schon im Pubertätsalter alle Illusionen verloren und reagiert ablehnend und renitent auf Anforderungen: weshalb Schule, weshalb Uni, weshalb ein Beruf, um an Ende doch auf Schulden zu sitzen, im Callcenter zu landen und sich die Sorgen wegzusaufen. Als Graffiti-Sprayer setzt er Zeichen und Protestnoten, klaut auch schon mal die Farbdosen dafür und durchkreuzt die Harmonie und Idealbilder, während die Elterngeneration Vernunft predigt. »Sorry we missed you«, der Nachrichtenzettel, der über eine Warenlieferung informiert, gilt auch darüber hinaus: als verpasste Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen, rechtschaffene Politik zu machen, auch als traurige Negativbilanz der Familienpolitik im Kleinen, trotz bester Absichten und redlichen Bemühens.
Ken Loach und sein Drehbuchautor Paul Laverty machen seit 40 Jahren großes Kino über kleine Leute. Hier heißen sie Ricky, Abby, Seb(astian) und Liz und leben in Newcastle. Das New British Cinema, das die Thatcher-Ära kritisch und fantasievoll kommentierte, hat auch für den menschenfeindlichen Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts und seinen digitalen Spleen nichts übrig.
»Sorry, we missed you«, Regie: Ken Loach, GB / Belgien 2019, 100 Min., Start 30. Januar 2020