Altes Kopfsteinpflaster, vor langer Zeit überasphaltiert. Reste von Eisenbahnschienen, eine schmucklose Glasbausteinfassade aus den 50er Jahren. So also sieht die Rückseite der Giradetstraße in Essen-Rüttenscheid aus. Einige Meter weiter wurden bis 1988 im Giradet-Druckhaus im großen Stil Magazine gedruckt – Micky Maus, Quick und die deutsche Ausgabe des Playboy. Vergangenheit. »Ein bisschen Niemandsland«, nennt Sven Winterstein, Gründer und Geschäftsführer von »Letterjazz«, lächelnd diese hübsch unglamouröse Ecke. Gedruckt wurde hier früher nichts, sagt er, stattdessen hätte das Gebäude einst als Lager für Nachtspeicheröfen gedient. Er freue sich aber, jetzt diese traditionsreiche Adresse im Briefkopf zu haben.
Vor einigen Jahren ist Winterstein mit seiner Druckwerkstatt »Letterjazz« aus einem kleinen 100-Quadratmeter-Atelier in Essen-Holsterhausen hierher gezogen. Er benötigte mehr Platz: »Heute sind wir auf der siebenfache Fläche, machen aber inhaltlich fast noch das Gleiche. Die Drucktechnik von vorgestern, sozusagen.« Dafür braucht man viel Technik, wie die historischen, schwarzglänzenden Heidelberger Druckmaschinen, die aufgereiht in der weiten Halle stehen. Hier entstehen Print-Schönheiten wie Visitenkarten, Einladungen, Geschäftsausstattungen, Plakate und Verpackungen im jenem besonderen »Letterjazz«-Stil aus feiner, teils tiefgeprägter Typografie, satten Farben und ausgesuchten Papier- und Kartonsorten. »Letterpress« heißt diese Drucktechnik, die erstmal nichts anderes als Buchdruck bedeutet. Das sei genau das gleiche, sagt Winterstein, habe in seiner gegenwärtigen Form aber nichts mehr mit dem klassischen Buchdruck zu tun. Die 42-zeilige Bibel war einst das erste Druckprodukt, deshalb hat man seit dem 15. Jahrhundert bis hinein in die 1970er Jahre die Seiten mit Bleilettern aufgebaut und gesetzt.
Wie elektronische Musik auf einem Plattenspieler
»Das machen wir heute nicht mehr. Wir fertigen aus angelieferten, digitalen Daten heraus Klischee-Platten als Vorlagen an, die dann in der Druckmaschine aus grauer Vorzeit eingesetzt werden«, erklärt Winterstein. »Wir verbinden auf diese Weise das Beste aus beiden Welten. Das ist ein bisschen so wie bei elektronischer Musik, die man dann auf einem Schallplattenspieler abspielt. Die entsteht ja auch nicht mit elektronischen Instrumenten, sondern mit digitaler Technik.« Das war vor zwölf Jahren sein Ausgangspunkt, als er »Letterjazz« gründete: »Ich habe mich jahrelang mit Typografie und Grafikdesign beschäftigt und mir gesagt, dass ich nicht die traditionelle Satzherstellung anwenden, sondern stattdessen die aktuellen Gestaltungsstile mit der Drucktechnik von früher reproduzieren möchte.«
Sven Winterstein, Jahrgang 1976, hat sich sofort nach seiner Ausbildung als Druckvorlagenhersteller als Partner in einer kleinen Designagentur selbstständig gemacht und entwarf Print- und Corporatedesigns, meist für Kunden aus der Stahlindustrie, wie sich das im Ruhrgebiet gehört. »Das haben wir handwerklich auch auf einem ganz anständigen Niveau gemacht, aber irgendwann ist mir das zu langweilig geworden. Weil das alles von der Gestaltung so industriell perfekt und glatt war, habe ich mich gefragt, wie das eigentlich früher gewesen war, vor dem vierfarbigen Offsetdruck? Und mich an meine Hochschulzeit und Letterpress erinnert.« Trotzdem bleibt so etwas doch eine Lebensentscheidung, gerade wenn es darum geht, mit Maschinen, die woanders längst aus der Produktion geflogen sind, etwas Neues zu beginnen? »Zu der Zeit hatte ich noch keine Kinder und musste keine Hypothek abbezahlen«, sagt Winterstein und lacht. »Dementsprechend fühlten wir uns frei, wieder bei Null anzufangen. Die alten Maschinen waren aber schon damals ein Hobby. Ich habe das anfangs als eine Art Freitzeitbespaßung betrachtet. Da kamen dann schnell die ersten Leute und fragten, ob ich nicht für sie Visitenkarten oder Hochzeitseinladungen drucken könnte. Das war der Ursprung. So war es auch naheliegend, ab 2010 tatsächlich einen Gewerbebetrieb zu gründen.«
»Alles vollautomatisch. Und mit Liebe.«
Heute hat »Letterjazz« als Printstudio viele Druckverfahren unter einem Dach vereint; genauso, wie sich Sven Winterstein das immer vorgestellt hat. Insgesamt acht Buchdruckmaschinen fahren er und sein Team momentan, darunter die kleineren »Heidelberger Tiegel« für das Format DIN A4 und den großen »Heidelberger Zylinder« für Bögen von 50 mal 70 Zentimetern – Typografie, haptische Tiefenprägung und Farbe vereint und verarbeitet in einer Maschine. »Geht alles vollautomatisch. Und mit Liebe.« Winterstein verweist auf seinen Fundus historischer Weiterverarbeitungsmaschinen für Kartonagenherstellung, Heißfolienprägung und Siebdruck.
An Ersatzteile zu kommen, sei nicht so schwer wie angenommen. »Erfreulicherweise geht relativ wenig kaputt, solange man mit den richtigen Leuten daran arbeitet. In der Anfangszeit hatten wir den Kollegen Herrn Laufs, Jahrgang 1929, der sich mit den Maschinen auskannte und geholfen hat, den ersten Schwall von Aufträgen zu bewältigen. Heute sind wir zehn Leute, darunter drei Kollegen, die schon fast im Rentenalter sind.« Es gibt aber durchaus ein Nachwuchsproblem: »Zum Glück haben wir jetzt einen 25-jährigen Drucker im Team dazubekommen, der gerade dabei ist, sich von den alten Hasen einige dirty Tricks abzugucken. Dennoch: Alte Technik braucht altes Wissen. Und eine lange Praxis.« Winterstein hat bereits einen Mediengestalter entsprechend ausgebildet: »Ich weiß nicht, ob es bei jungen Menschen noch die Sehnsucht gibt, etwas zum Anfassen zu machen, was nach Maschinenöl und Druckfarbe riecht. Sollte da jemand Interesse haben, sind wir sehr offen.«
Im Retro-Design der 50er
Mit »Letterjazz« verbindet sich nicht nur eine gewisse Technik, sondern auch ein besonderer Gestaltungsstil. Das wird im Besprechungsraum deutlich, der gleichzeitig ein Showroom ist. Elegante Papiere, dicke Graupappen, feinste Linien, Illustrationen und Typografie, gerne im Retro-Design der 50er; haptisch tiefgeprägt. So ästhetisch, dass es kracht, und so elegant verarbeitet, dass man am liebsten alles anfassen möchte. Ein gewisser designbetonter »Letterjazz«-Stil ist unverkennbar, etwa bei der Pop-Up-Karte, die man vor zwei Jahren als Eigenwerbung mit dem Essener Designer Dirk Uhlenbrock und dem Papierkünstler Peter Dahmen aus Dortmund entwickelte. Ein historischer VW-Bully entfaltet sich zusammen mit einer Fabrikhalle zu einem Papierdiorama in hellblau-grauen Farbtönen. Todschick natürlich, aber Sven Winterstein rudert beim Thema Retro etwas zurück: »Wir versuchen, nicht nur solche verspielten Dinge anzubieten, da wir merken, dass die Kunden sich auch einfachere Lösungen wünschen. Es gibt ja nicht nur Tattooshops und Craftbeer-Manufakturen. Die haben wir zwar auch als Kunden, aber von denen allein kann man nicht leben. Wir müssen auch eine klassische deutsche Marke aus dem Fashion- und Lifestylebereich wie etwa Braxx umsetzen können.«
Als nächstes wollen Sven Winterstein und sein Team ein lange geplantes Projekt auf die Beine stellen, ein eigenes Sortiment aus Papeterieartikeln wie Kalender, Notizbücher und Archivschachteln aus hochwertigen Feinstpapieren. Schöne Dinge eben. »Bisher hält uns das Tagesgeschäft ab, aber 2020 ist realistisch« lacht Sven Winterstein. Und sonst? »Was die altmodischen Druckverfahren angeht, wollen wir uns treu bleiben.« Leidenschaftlicher »Letterjazz« eben, in allen Tonlagen. Oder besser – in allen Papierstärken.