Wessen Frau ist das? Fröhlich sieht sie ja aus, so umzingelt von Jecken. »Erkennen Sie, was auf dem Bild zu sehen ist und wann es entstanden sein könnte?«, ist neben der Aufnahme aus dem Stadtarchiv Kerpen zu lesen. Darüber haben die Programmierer ein Kommentarfeld platziert, für Hinweise, wer denn damals mit wem genau Karneval in Kerpen feierte. Per Mausklick geht es auf der Internetseite so bequem durch die Zeiten und Bestände: Auf einem Foto haben sich Verkäuferinnen in weißen Kitteln vor dem Geschäft der »Cornelius Stüssgen A.G« postiert. »Sie lachen Tränen« wird auf einem Schild angekündigt – aber wo hing es einmal genau? An einer Jahrmarktsbude? Oder an einem Zirkus?
»Was wir suchen, ist der kreative Kick«
Jörg Reichert, Programmierer
»Coding da Vinci« heißt ein »Kultur-Hackathon«, bei dem auch gerade das Portal »Mein Stadtarchiv« bearbeitet wird. Von Kreativen aus der Softwareentwicklung, Kunst oder dem Design. Ehrenamtlich und innerhalb kurzer Zeit. Denn Wissen zu teilen, digitalisierte Fotos, Filme, Sounds, Dokumente und auch Kunst Kreativen lizenzfrei und unkompliziert anderen zugänglich zu machen – das ist nicht das Ziel des Projekts, sondern der Ausgangspunkt. Seit 2014 schicken die Deutsche Digitale Bibliothek, das Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin, die Open Knowledge Foundation und Wikimedia Deutschland »Coding da Vinci« durchs Land. Finanziert mit Mitteln der Kulturstiftung des Bundes. Und zum ersten Mal nun auch in NRW.
Eine Karte über die Kriegsschäden in Moers
Wie ließe sich zum Beispiel die Kerpener Internetseite besser strukturieren, damit sie vielleicht auch andere Archive nutzen können? Wäre es nicht denkbar, die hier eingestellten Fotos auch mit Datensätzen anderer Häuser zu verknüpfen? Um solche Fragen geht es beim »Hackathon«, für den rund 100 Programmierer*innen, Designer*innen und Spieleentwickler*innen ins LWL-Industriemuseum Zeche Zollern nach Dortmund gekommen sind. In nur wenigen Stunden suchen sie sich heraus, was sie bearbeiten wollen. Sehr spontan: Einer von ihnen ist Jörg Reichert, der sich an diesem Oktobertag in Dortmund dazu entschließt, die Kriegsschäden der Stadt Moers auf einer geolokalisierten Karte aufzubereiten. Acht Wochen hat der Software-Entwickler dafür dann Zeit – ehe am 6. Dezember die besten Projekte im Dortmunder U ausgezeichnet werden. »Was wir suchen, ist der kreative Kick«, sagt der 36-jährige Programmier aus Leipzig, der hauptberuflich etwa für große Automobilkonzerne arbeitet. »Oft sind meine Aufträge zwar technisch, aber nicht wirklich inhaltlich interessant.« Auch deshalb würde er sich regelmäßig in seiner Freizeit mit anderen zusammenschließen – darunter auch mit Experten aus der Kunst- und Kulturwissenschaft, Geschichte oder Ethnologie.
23 Kulturinstitutionen haben für den Dortmunder »Hackathon« ihre Daten zur Verfügung gestellt, von Fotos und Filmen über Volkslieder und Industrieklänge bis zu Landkarten. Veranstalter ist das Industriemuseum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe gemeinsam mit den Kulturbüros Ostwestfalen-Lippe und Münsterland und dem Hartware MedienKunstVerein. »Wir sind bewusst nicht ins Rheinland oder Ruhrgebiet mit unserem Aufruf gegangen«, sagt Philippe Genêt, der »Coding da Vinci« bundesweit als Projektleiter koordiniert.
Von Vögeln und Bibeln
Denn: Gerade in Ostwestfalen und dem Münsterland gibt es viele kleinere Institutionen, die auf zwei Dinge hoffen: auf den Austausch mit anderen. Und auf Sichtbarkeit. Interessant ist die Bandbreite der eingestellten Bestände: Der mit Abstand größte Datensatz des »Hackathons« kommt aus dem Bibelmuseum Münster, das zehn vollständig digitalisierte Bände mit Illustrationen von Lucas Cranach oder Hans Holbein aus den Jahren 1483 bis 1670 bereitstellt. Das LWL-Medienzentrum steuert Fotos des Naturschutz-Pioniers Hermann Reichling bei, der in den 1920er und 30er Jahren Vögel und Nistplätze dokumentierte. Und die neugegründete Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund Aufnahmen des Bühnenbildes von Kay Voges’ »Borderline Prozession« aus dem Jahr 2016.
»Das Meiste, das in den Archiven und Depots liegt, kann aus verschiedenen Gründen ohnehin nicht ausgestellt werden«, sagt Konrad Gutkowski – auch aus eigener Erfahrung. Er koordiniert »Coding da Vinci« gemeinsam mit dem Industriearchäologen Felix Hartelt in NRW und hat aus dem TextilWerk in Bocholt Filme historischer Maschinen mitgebracht. »Wir setzen die alten Gerätschaften aus konservatorischen Gründen nur ungern in Bewegung«, sagt der Historiker des LWL-Industriemuseums. Unter dem Titel »Schicht im Schacht« werden bei »Coding da Vinci« daher nun Bilder, Videos, Texte und Sounds der Weberei zu einem Augmented-Reality-Guide verbunden. »Was dann mit einer Datenbrille abgerufen werden kann, ist am Ende vielleicht noch ein Stück weit anschaulicher als das Original selbst«, hofft Gutkowski.
Frei verfügbar für alle
Jörg Reichert hat in Dortmund das »Moers Bombing Project« erfunden, für das er Fotos, Karten und Filme auf einer virtuellen Karte aufsetzt. Sie soll verschiedene Detailfotos von Kriegsschäden mit Luftaufnahmen zusammenbringen. Und zeigen, was heute noch die Stadtbilder prägt. Sein zweites Vorhaben heißt »MadMemory«. Ein Spiel, unter anderem mit Daten aus dem Sound-Archiv des LWL-Industriemuseums und Begriffen des Rheinischen Mitmachwörterbuchs. Ausprobieren lässt es sich schon jetzt im Netz – ob es aber jemals als App auf den Markt kommen wird? »Viel wichtiger ist für uns, dass die Daten dazu frei verfügbar gemacht werden«, sagt Reichert. Regelmäßig lade er daher Datensätze von Hackathons anschließend auf Wikipedia hoch.
Das Problem vieler Häuser ist allerdings: Nicht immer sind die Abbildungs- und Nutzungsrechte ihrer Bestände geklärt. »Daher bieten wir im Vorfeld eines jeden Hackathons Informationsveranstaltungen an«, sagt Philippe Genêt. Einige Museen haben so große Sammlungsbestände eingespeist. Das Lehmbruck Museum in Duisburg etwa, das einige seiner Skulpturen gleich aus mehreren Perspektiven fotografiert zur Verfügung stellt. Oder das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, das Skizzen, Aquarelle und Bilder von August Macke präsentiert. Knallbunte Reisebilder, die der Maler von seiner Tunesienreise 1914 mitbrachte. Schlafende Schönheiten aus dem Archiv. Hochauflösend und frei verfügbar für alle.
Im ostwestfälischen Hiddenhausen ist man froh, mit »Coding da Vinci« einen ersten Startpunkt zur Vernetzung mit anderen Häusern gefunden zu haben: »Durch den Hackathon hat uns ein Mitarbeiter der Universitätsbibliothek in Münster angesprochen, die künftig nun einige unserer Lehrerchroniken in ihre Datenbank aufnehmen wird«, sagt Gisela Hering-Bejaoui, die den Verein Museumsschule 2001 mitgegründet hat. Und die Schulstube mit Lehrerwohnung von 1847 vor dem Abriss gerettet. Über mehrere Jahrhunderte hatten die Hiddenhausener Beamten in diesen Chroniken nicht nur über das Wetter oder die Ernte berichtet, sondern auch von Gefallenen und Gefangenen – zuletzt zurzeit des Ersten Weltkriegs. »Ein Stück Europa im Kleinen«, so nennt es die Gisela Hering-Bejaoui, die ursprünglich Geschichte studiert hatte, heute in Hiddenhausen das Amt für Soziales leitet – und die Museumsschule noch dazu. »Anders wäre der Betrieb nur schwer aufrecht zu erhalten«, sagt die 64-Jährige – alle sonst Beteiligten arbeiteten ehrenamtlich oder bekämen etwa für Führungen nur eine kleine Aufwandsentschädigung. Dabei hat die Museumsschule im Verhältnis zu ihrer Infrastruktur enorm hohen Zuspruch: 3000 bis 4000 Menschen kämen jedes Jahr in das preußische Volksschulgebäude. Regelmäßige Öffnungszeiten gäbe es aber trotzdem nicht. »Das Interesse wäre da, aber dafür fehlen uns einfach die Kräfte.«
Rund 400 Objekte aus Hiddenhausen stehen nun dank »Coding da Vinci« im Netz. Fotos von altem Mobiliar oder einem Paul-Hindenburg-Gedächtnisteller bis zu Büchern wie »Herzmütterlein’s Erzählungen im trauten Familienkreise«. Wie hat der Verein in solch einer Situation da noch die Ressourcen aufgebracht, alles zu digitalisieren? »Das Projekt war uns einfach wichtig«, sagt Gisela Hering-Bejaoui. Und dann fügt sie hinzu: »Manchmal habe ich Sorge, dass wir das Haus vielleicht eines Tages schließen müssen, weil wir immer schlechter Ehrenamtliche finden und die Mittel so knapp sind.« Dann aber wären die Bestände der alten Schule zumindest gesichert – im Internet.
Auf der Internetseite von »Coding da Vinci« werden nicht nur alle Projekte des »Kultur-Hackathons« dokumentiert, sondern auch zur Verfügung gestellten Daten verschiedenster Kulturinstitutionen zugänglich gemacht: www.codingdavinci.de