Während des Drehs dieses herzergreifenden Films könnte Theo Angelopoulos neben dem Regisseur Wang Xiaoshuai gestanden und seine Hand über den chinesischen Kollegen gehalten haben. »Bis dann, mein Sohn« ist Fleisch vom Fleisch und Geist vom Geist des großen Griechen – und erzählt in ruhevollen drei Stunden eine Elegie, die privates Schicksal mit dem des kommunistischen Riesenreichs verbindet. Eines der schönsten Worte, das der Schriftsteller W.G. Sebald (er)fand, ist das von der »Trauerlaufbahn«, die er in den Geschichten seiner aus Alltag, Norm und Normalität »Ausgewanderten« verfolgt und niedergeschrieben hat.
Ein Unglück geschieht
Zwei Jungen sitzen oberhalb eines Stausees und beobachten eine Gruppe am Wasser spielender Kinder. Der eine, Xingxing, will den anderen überreden, mitzumachen. Aber HaoHao weigert sich und bleibt sitzen. Wenig später sehen wir in der Totale, dass ein Unglück geschehen ist und die Eltern von Xingxing, Yaojun und Liyun, klagend seinen Körper davontragen und ins Krankenhaus bringen.
In einer komplizierten Erzähltechnik, die Zeitebenen ineinander schiebt wie ein elementares Beben die Tektur der Erde, erfahren wir die Vorgeschichte, Gegenwart und Zukunft des Ehepaars, das durch den Tod des Sohnes in seinen Grundfesten erschüttert wird. Yaojun und Liyun (Wang Jingchun, Yong Mei, die auf der Berlinale mit Silbernen Bären als beste Darsteller*innen ausgezeichnet wurden) nehmen ein anderes Kind auf, als Ersatz und Nutznießer ihrer Verzweiflung, der seine Zieheltern enttäuscht, wohl auch nur enttäuschen konnte und sich einer rebellischen Halbstarken-Gang anschließt. Mann und Frau verlassen die Stadt am Meer, Freunde und Nachbarn, darunter die Eltern von HaoHao, die selbst untröstlich sind über den Verlust des einen der beiden gemeinsam aufgewachsenen Jungen. Sie ziehen in eine ferne Provinz, wo sie kaum den Dialekt verstehen und in der sie äußerlich und innerlich Fremde bleiben. Sogar wenn sie tanzen und feiern, immer bleibt das Andere anwesend.
Bild und Gegenbild
Wang Xiaoshuai ruft zu jedem Bild sogleich das Gegenbild auf. These und Antithese: der Wegzug von Yaojun und Liyun wechselt mit Erinnerungen an die Kulturrevolution, als fanatisierte Studenten wieder zurück vom Land in die Städte wollten, als das Hören westlicher Musik verpönt war und eine wegen »Ausschweifung« bestrafte Frau ihre Kassetten mit Boney M. zertrampelt; ein den Sieg des Sozialismus bejubelnder Kinderchor kontrastiert mit Lautsprecherdurchsagen über die von der Partei verordnete Familienplanung (Ein-Kind-Politik), die Liyun zum Schwangerschaftsabbruch zwingt und sie dann mit einer Prämie belohnt. Der Fabrikleiter kündigt von Protest begleitet Entlassungen an – während Revoltierende das Podium stürmen, rinnt über Liyuns Wange eine Träne, und Yaojun blickt wie versteinert. Ihr Mut ist müde. Sie sitzen weinend wie »by the River oft Babylon«, während sich China dem hedonistischen Neokapitalismus überantwortet.
Mehrfach spielt Wang Xiaoshuai die alte schottische Ballade »Auld Lang Syne« ein, die wehmütig vom Abschied singt. So viel Abschiednehmen: von Hoffen und Idealen, Heimat und Zukunft, der Aussicht auf Glück. Die Welt von Yaojun und Liyun umfasst kaum mehr als die Metallfabrik, in deren Nähe sie auch wohnen. Draußen liegt zwischen Bergen die See mit einer Flotte von Schiffen, deren Tuten ein Sehnsuchtsruf ist. Die Schönheit dieser Welt in Prosa lässt uns das Herz bluten.
»Bis dann mein Sohn«, Regie: Wang Xiaoshuai, China 2019, 180 Min., Start: 14. November 2019