Als Idris Habbsy seine Hand öffnet, flattert eine Schar grauer, weißer und braun getupfter Tauben wild um ihn herum. Sie haben es auf die Haferkörner abgesehen, die er auf dem Boden der Voliere verstreut. Einige Tiere bleiben auf ihren Stangen sitzen, putzen sich ihr Gefieder, andere plustern sich auf und gurren leise. Wenn Habbsy seine Tauben füttert, erinnert ihn das an seine Heimat. Der 24-Jährige wurde in Deir ez-Zor geboren, einer syrischen Großstadt nahe der Grenze zum Irak. Dort hatte er als Fremdenführer gearbeitet und nebenbei Tauben gezüchtet – bis er 2015 vor dem Krieg in Syrien floh. Heute fliegen seine Tauben nicht mehr über den Dächern von Deir ez-Zor, sondern über Lüdenscheid oder Schwerte. Denn Idris Habbsy ist in die Reisevereinigung (RV) Herne-Wanne 1900 e.V. eingetreten, einem Taubenzuchtverein in Herne-Sodingen.
Das Vereinsheim der RV Herne-Wanne, eine weiß gestrichene Halle mit hohen Fenstern, steht am Rande des ehemaligen Steinkohle-Bergbaus Zeche Mont Cenis. Eine graue Stahltür führt in eine geräumige Vorhalle. Hier ist der »Kabinenexpress«, kurz »Kabi«, geparkt, ein grauer Lastwagen, der die Tauben an den »Reisetagen« im Frühjahr und Sommer zu Flugwettbewerben bringt. Strecken von bis zu 320 Kilometern legen die Tiere dabei zurück.
2006 hatte der Verein seinen »Kabi« gekauft. Damals war noch ein zusätzlicher Anhänger nötig, um die vielen Tauben der Mitglieder unterbringen zu können. »Viele haben mich gefragt, warum wir denn so einen kleinen Wagen anschaffen«, sagt Georg Hochholzer, erster Vorsitzender der RV Herne-Wanne. Heute sind die Zeiten, in denen der »Kabi« überfüllt war, lange vorbei. Die Herner müssen sich mit Bochumer Taubenzuchtvereinen zusammentun, um den Wagen ansatzweise auszulasten.
Aktuell zählt die Reisevereinigung 87 aktive Taubenzüchter, vor zehn Jahren waren es noch 160.
Georg Hochholzer kümmert sich jedes Wochenende um das »Reisegeschäft«. Der 60-Jährige verwaltet Meldelisten für die Flugwettbewerbe, wertet Ergebnisse aus und betreut die Vereinsmitglieder. Sonntags sitzt er mit ihnen im Vereinsheim bei Kaffee und Kuchen zusammen; bei schönem Wetter wird der Grill angeworfen und »ein bisschen Bier getrunken«, erzählt er. Aber Hochholzers gesellige Runde wird immer kleiner. Den Verein plagen Nachwuchssorgen; die Mitgliederzahlen gehen kontinuierlich zurück. Aktuell zählt die Reisevereinigung 87 aktive Taubenzüchter, vor zehn Jahren waren es noch 160. Es ist eine Entwicklung unter der nicht nur Hochholzers Taubenzuchtverein leidet. Vor allem »freizeitbezogene Gemeinschafts- oder Geselligkeitsvereine« sind gemäß des »Datenreport Zivilgesellschaft« (2017) von Mitgliederschwund betroffen. Die Gründe? »Ein wichtiger Faktor ist die starke Wohnortabhängigkeit und lokale Bindung dieser Vereine«, sagt Dr. Holger Krimmer, Geschäftsführer von Ziviz – Zivilgesellschaft in Zahlen. Ziehen viele Menschen aus einer Gemeinde weg, sinken auch die Mitgliederzahlen ihrer örtlichen Vereine. Besonders stark bemerkbar macht sich das in auf dem Land, wenn es vor allem jungen Menschen in die Städte zieht.
In Nordrhein-Westfalen sind rund 120.000 Vereine registriert (Stand: 2017). Zu ihnen zählen unter anderem Sport- oder Kultur-, aber auch Heimat-, Schützen-, Selbsthilfe- und Fördervereine. Grundsätzlich gilt: Nach wie vor sind viele Menschen bereit, sich in ihnen zu engagieren. »Allerdings ändert sich die Motivation dahinter«, sagt Krimmer. Die Mitgliedschaft diene zunehmend als »Instrument, um etwas zu erreichen«. So gebe es etwa mehr Mitglieder und mehr Neugründungen bei Vereinen aus den Bereichen Internationale Solidarität, Bürger- und Verbraucherinteressen oder Bildung.
Parallel dazu entstünden immer mehr Interessensgemeinschaften, die nur lose miteinander vernetzt sind und auf persönlichen Kontakten beruhen –etwa Mittagspausengruppen oder Stammtische. Auch digitale Vereine wie die Kampagnenplattform change.org gewinnen an Relevanz, während die traditionellen Vereine vor großen Herausforderungen stehen. Bei den Taubenzüchtern etwa machen sich strukturelle Veränderungen besonders stark bemerkbar. Zu ihren Hochzeiten in den 60er und 70er Jahren waren sie im Ruhrgebiet eng mit dem Bergbau verknüpft. Für viele Kumpel war das Hobby Erholung und Wettbewerb zugleich. Sie genossen die frische Luft nach den anstrengenden Stunden unter Tage und veranstalteten Flugwettkämpfe an den Wochenenden. Allein in Herne hatten sich rund 1000 Züchter dem »Rennpferd des kleinen Mannes« verschrieben. Mit dem Niedergang des Bergbaus wurden es immer weniger. Zusätzlich haben sich die Städte verändert: Viele Häuser sind heute bis in die Dachböden ausgebaut, Gärten gibt es immer weniger. Für die Taubenzucht in der Stadt ist schlichtweg kaum Platz.
Vereine, deren Mitgliederzahlen sinken, fusionieren heute oft mit größeren Organisationen oder Verbänden – schon allein, um die Kosten, Aufgaben und bürokratischen Belange auf mehreren Schultern zu verteilen. Der »Verband Deutscher Brieftaubenzüchter« mit Sitz in Essen-Katernberg steckt beispielsweise viel Engagement in die Öffentlichkeitsarbeit, erstellt digitale Image-Kampagnen und kümmert sich um Publikumsaktionen wie den jährlichen Tag der Brieftaube. »Den großen Hype um uns erwarte ich durch solche Events allerdings nicht mehr«, sagt Hochholzer.
Die Tradition der Taubenzucht war bisher meist innerhalb der Familien weitergegeben worden, über Generationen hinweg. Aber das Prinzip des »vererbten Engagements« funktioniert heute nicht, so Holger Krimmer. Beim RV Herne-Wanne hatte Hochholzer die Taubenzucht noch von seinem Vater übernommen. Seine Kinder allerdings kann er dafür nicht mehr begeistern. »Meine Söhne sind in die Welt hinausgegangen, kümmern sich um ihr Studium und ihre Ausbildung.« Da bliebe kein Raum für ein zeitintensives Hobby in der Heimatstadt.
Video-Calls statt wöchentliche Mitgliederversammlungen, Cloud-Lösungen statt Papierkram
»Viele Menschen passen ihre Bindung an einen Verein dynamisch ihren jeweiligen Lebensphasen an«, sagt Ziviz-Geschäftsführer Krimmer. »Wer Kinder bekommt, geht in den Schulförderverein, wer ein Rückenleiden hat, vielleicht in die Selbsthilfegruppe.« Krimmer spricht zudem von einem Kulturbruch zwischen Jüngeren und Älteren, der unter anderem mit der Digitalisierung zusammenhängt. Während es bei den Älteren noch große Berührungsängste für digitale Lösungen gibt, setzen jüngere Vereinsmitglieder auf Video-Calls statt auf wöchentliche Mitgliederversammlungen oder auf Cloud-Lösungen statt auf Papierkram. Auch die spezifischen Themen und Inhalte bestimmter Vereinsgruppen seien für viele Jüngere nicht attraktiv. Brieftaubenzuchtvereine fallen offenkundig in diese Kategorie.
Der Altersdurchschnitt der RV Herne-Wanne ist auf über 60 gestiegen, viele Mitglieder sind sogar deutlich älter. Idris Habbsy ist mit seinen 24 Jahren die absolute Ausnahme. Eineinhalb Jahre ist es her, als Georg Hochholzers Telefon klingelte. »Da rief ein junger Mann aus Syrien an, der sich bei uns eine neue Taubenzucht aufbauen wollte.« Hochholzer fackelte nicht lang: Gemeinsam mit anderen Mitgliedern organisierte er einen Taubenschlag und baute ihn im Vereinsgarten auf. Er unterstütze Habbsy auch, als dieser eine Wohnung und später Kindergartenplätze für seine beiden Söhne suchte. »Idris brauchte damals unsere Hilfe – und wir brauchten seine«, sagt Hochholzer.
Ein geflüchteter Syrier wird Mitglied in einem Herner Taubenzuchtverein. Was zunächst nach einem schrägen Integrationsexperiment klingt, geht in der Praxis tatsächlich auf. Inzwischen fährt Habbsy jeden Tag zur RV Herne-Wanne, häufig bringt er seine Familie mit. »Und mit der deutschen Sprache klappt es auch immer besser.« Das Beispiel zeigt, dass Vereine bei der Integration eine wichtige Rolle spielen.Während Migranten unter anderem von den gemeinsamen Aktivitäten profitieren, indem sie neue Kontakte knüpfen und die deutsche Sprache anwenden können, verbuchen die Vereine wiederum ein Plus bei ihren Mitgliederzahlen. Allerdings sind es bisher nur wenige – laut Ziviz-Report nur 6,4 Prozent aller Vereine in Deutschland, die sich gezielt darum bemühen, Mitglieder mit Migrationshintergrund für sich zu gewinnen. Hinzu kommt, dass die oberen Vereinsebenen meist homogen bleiben. »Migranten im Vereinsvorstand sind zurzeit noch eher die Ausnahme«, so Krimmer.
An einer Wand im Vereinsheim der RV Herne-Wanne hängt eine Reihe von Ehrentafeln, die bis ins Jahr 1950 zurückreichen. Hier sind die Frühjahrs- und Herbstmeister des Taubenzuchtvereins eingraviert, Namen wie Norbert Stolorz, Horst Koslowski oder U. W. Barnstorf. »Und irgendwann steht hoffentlich auch Idris Habbsy drauf«, sagt Georg Hochholzer.