Es sieht ganz so aus, als würden wir stören. Lieber wohl hätte sich der alte Herr länger in die dicht bedruckten Seiten des Folianten vor ihm auf dem Tisch vertieft. Doch nun schaut er auf, aus dem Bild heraus – während seine Gedanken noch fest in der Lektüre hängen. Genau dieser Moment interessiert Rembrandt: schon abgelenkt, aber noch nicht gelöst. Wie schafft er es nur, das Dazwischen exakt auf den Punkt zu bringen? So dass es jeder erkennt – in der gedrehten Haltung, in der Hand am Bart, im sinnenden Gesichtsausdruck.
Wer da aber sitzt, theatralisch herausgeputzt im pelzgesäumten Samtmantel, und welches Buch ihn so fesselt – das scheint dem Maler nicht so wichtig zu sein, vielleicht lässt er es auch absichtlich im Unklaren, um der Phantasie des Publikums freien Lauf zu lassen. Ob es vielleicht Paracelsus sein könnte, ein Rabbiner oder irgendeine Gestalt aus dem Alten Testament? Alles wurde schon erwogen und zum Teil verworfen. Ganz unverfänglich als »Gelehrter im Studierzimmer« hängt das monumentale Werk denn auch im Prager Nationalmuseum, normalerweise. Nun aber bleibt es ein paar Monate im Wallraf-Richartz-Museum in Köln, wo man Rembrandts 350. Todestag begeht. Mit einer Ausstellung, die sich selbstbewusst »Inside Rembrandt« nennt und das kapitale, dabei aber gar nicht so sehr bekannte Werk aus Prag ins Zentrum rückt.
Vom Wunderkind zum Bankrotteur
Rembrandt Harmenszoon van Rijn ist nicht mal 30, als er den alten »Gelehrten« malt und dabei die Grenzen zwischen Porträt und Historienbild auflöst. Es steckt schon vieles in diesem Bild, was die Kunst des genialen Malers und Menschenkenners auszeichnet. Ebenso deutet sich manches, was noch kommen wird in seinem Schaffen, hier bereits an. Zurück und nach vorn blickt die Schau also von diesem Dreh- und Angelpunkt aus. Und sie zieht dabei auch das Drumherum »outside« gründlich in Betracht. Etliche Werke von Zeitgenossen, Weggefährten, Schülern, Kopisten füllen die Säle im Wallraf-Richartz-Museum auf und begleiten Rembrandts Weg vom Wunderkind in Leiden zum Bankrotteur in Amsterdam. Eine Lebensgeschichte, die wie für eine Bühne gemacht ist, voller gemalter Akteure, die oft wie Schauspieler wirken – originell ist auch deshalb die Idee, den Ausstellungs-Parcours wie ein Drama in Akte zu gliedern.
Neben dem jugendlichen Hauptdarsteller übernimmt Rembrandts Künstlerfreund Jan Lievens in Akt I eine tragende Rolle. Da kann man erkennen, wie sehr der kreative Wettstreit die Talente, beide Anfang 20, fordert und beeinflusst. Man sieht ein Dream-Team im Ideenlabor. Treffend kennzeichnet ein Zeitgenosse die unterschiedlichen Stärken: Lievens bescheinigt er »kühne Erfindungskraft und Monumentalität«. Während er bei Rembrandt den »tief empfundenen Gemütsausdruck im kleinen Format« preist.
Dabei hatte er wohl nicht allein die Gemälde im Auge. Denn neben die Malerei tritt in Rembrandts Werk früh schon die Grafik. Mit viel Ehrgeiz erschließt er sich als Autodidakt die Kunst der Radierung und treibt sie schnell zur Meisterschaft. Über 300 Radierungen begleiten sein Schaffen, immerhin rund 160 bewahrt das Wallraf-Richartz-Museum und holt nun viele davon in die Ausstellung. Auch läuft parallel zu dieser großen Rembrandt-Schau eine gesonderte, die sich allein seiner Grafik widmet.
Rembrandt der »Selfie-Pionier«
Da sollte man genauer hingucken. Zum Beispiel auf das Selbstporträt des 24-Jährigen: Das Barett über seine ständig verstrubbelte Frisur gezogen, hat sich der Künstler für die Porträtsitzung vor dem Spiegel in Pose gebracht. Er wirkt gelangweilt, vielleicht etwas erschöpft. Trotzdem gelingt es ihm, die eigenen Züge mit leichter Hand festzuhalten. Auf kleinstem Raum: Das Blättchen ist in etwa so winzig wie ein Passbild aus dem Automaten oder, noch besser, wie ein Instagram-Post auf dem Handy-Display. Brachte man die heftig betriebene Selbstdarstellung des Barockmeisters doch jüngst wiederholt in Verbindung mit der digitalen Selbstdarstellung unserer Tage: Rembrandt der »Selfie-Pionier«.
In der Tat hat sich kein Künstler vor Rembrandt so oft verewigt. Um die 100 Selbstbildnisse sind bekannt, darunter 20 grafische. Einige kommen jetzt in den Kölner Ausstellungen zusammen und lassen ahnen, dass wohl mehr hinter ihnen steckt, als das Ringen um Aufmerksamkeit. Im jederzeit frei verfügbaren Spiegelbild studiert vor allem der junge Rembrandt offensichtlich den Ausdruck unterschiedlicher Stimmungen und Affekte. Er probierte Rollen, Kostüme und ständig neue Hüte. Dass sich die Selbstbildnisse auch bestens für die Eigenwerbung eigneten, dürfte der begabte Self-Promotor dabei allerdings sehr schnell erkannt haben.
Die Marke Rembrandt
Sie machten sein Gesicht zur Ikone und halfen zusammen mit der charakteristischen Signatur, die Marke Rembrandt zu etablieren. Wie sehr neben dem Maler seine Person zog, zeigt sich auch daran, dass die vielen, vielen Selbstbildnisse offenbar sehr gefragt waren in der Szene. Verkaufshits bis zuletzt: Kein einziges mehr befand sich im Besitz des Malers, als er 1669 starb.
Wichtig für die Karriere, die er durchlaufen hat, war sicher auch der Umzug 1631/32 aus dem an Bedeutung verlierenden Leiden ins boomende Amsterdam, wo Rembrandt im Nu zum gefragtesten Porträtisten aufstieg. In den ersten Jahren in der Stadt hatte er ein Bildnis nach dem anderen auf der Staffelei. Die Kundschaft gab sich die Klinke in die Hand, und Rembrandt hatte Grund zur Hoffnung, dass sich der zahlungskräftige Besuch auch für seine freie Produktion begeistert. Das Angebotsspektrum lässt sich in der Kölner Schau erahnen: Hier reicht es von der lebensgroßen Phantasiegestalt des Prager »Gelehrten« bis zur kleinfigurigen Komposition mit der Jagdgöttin Diana und ihrer Nyphenschar an einem lieblichen See.
Seine Modelle? Keine griechische Venus, sondern eine Wäscherin
Auch grafische Blätter stehen zum Verkauf, weibliche Akte etwa, wie das Wallraf-Richartz-Museum sie zeigt. Es wundert kaum, dass Rembrandt damit nicht jedermanns Geschmack traf. Denn die Wirklichkeit ist ihm, wie ein Zeitgenosse erläutert, wichtiger als das klassische Ideal. Und so wählt er nicht die griechische Venus, sondern »eine Wäscherin oder eine Torftreterin in der Scheune« als Modelle. Dabei geht die Wahrheitsliebe des Künstlers so weit, dass er sogar die Einschnitte des Schnürleibchens im schlaffen Bauch und des Strumpfbandes an den dicken Waden beschreibt. Vorteilhafter präsentiert sich seine geliebte Saskia, die nach der Verlobung 1633 immer öfter auftaucht in Rembrandts Bildern. Oft lässt er sie in Rollen, Kostümen, Inszenierungen auftreten, auch davon bietet die Schau Beispiele.
Das Glück ist unübersehbar – und Rembrandts Verzweiflung groß nach Saskias Tod mit nur 29 Jahren. Oft wird die Zeit danach als Einbruch beschrieben. Die Schau nutzt die kleine Delle in Produktion, um in Akt IV den Output des florierenden Werkstattbetriebs in den Fokus zu nehmen. Unter dem Dach im Amsterdamer Rembrandt Huis ließ der Meister seine meist fortgeschrittenen Schüler gern nach dem lebenden Modell zeichnen und dabei darben. So berichtet einer von ihnen: »Wenn ich auch manchmal vom Unterreicht des Meisters verdrießlich war, mich ohne Speis und Trank mit Tränen labte, so verließ ich meine Arbeit nicht eher, bis ich den angezeigten Fehler behoben hatte.« Auch gegen sich selbst ist Rembrandt unerbittlich – und so konnte es auch schonmal zwei Tage dauern, bis er einen Turban nach seinen Vorstellungen zeichnerisch drapiert hatte.
Er behält seinen eigenen Maler-Kopf: Der bunten, glatten Eleganz der neuesten klassizistischen Mode begegnet sein Spätwerk der 1660er Jahre mit tonigen, pastosen und manchmal fingerdick aufgetragenen Farben, mit breiten Pinselzügen und heftigem Helldunkel. Gefühlsregungen und -bewegungen bleiben Rembrandts große und völlig zeitlose Themen – und dass er sie, wie schon im Prager »Gelehrten«, so faszinierend zu schildern versteht, macht seine Malerei bis heute so anziehend und interessant.
In Köln spiegeln sich diese Regungen und Bewegungen etwa im Gesicht des Apostels Bartholomäus, das Rembrandt um 1660 beschreibt und dabei alles Heldenhafte vermeidet. Viel eher wirken die mit dem Palettenmesser modellierten Züge nachdenklich. Ganz in sich gekehrt und verletzlich tritt der Apostel uns entgegen. Sein Märtyrer-Attribut, das Schindelmesser, trägt er nicht vor sich her wie so viele Kollegen. Rembrandts Bartholomäus hält das Folterinstrument eher beiläufig in der Hand – fast hätte man es übersehen.
Nun ist es nicht mehr weit zum Finale, das Köln aus dem eigenen Bestand bestücken kann. Im Selbstbildnis von 1662 übernimmt der gebeugte, ungnädig gealterte Rembrandt die Rolle des antiken Kollegen »Zeuxis«. So oft schon hat man ihm ins Gesicht geschaut, doch immer noch lässt uns der lächelnde Greis ratlos stehen. Immer wieder gern fragt man sich, was er wohl im Schilde führt. Das wird, zum Glück, keiner beantworten können. Und auch keine Ausstellung – selbst nicht, wenn sie »Inside Rembrandt« heißt.
WALLRAF-RICHARTZ-MUSEUM & FOUNDATION CORBOUD: »INSIDE REMBRANDT. 1606 – 1669«
1. NOVEMBER 2019 BIS 1. MÄRZ 2020
»REMBRANDTS GRAPHISCHE WELT«
BIS 12. JANUAR 2020