Die Klingel ist kaputt, deswegen wartet Tieneke Verstegen im Erdgeschoss. Eine leicht geschwungene Treppe führt hoch ins eigentliche Foyer. Rechts, in der ehemaligen Garderobe, hängen jetzt ihre Kleider. Links geht es in die frühere Bar, die nun Tienekes Wohnküche ist. Dort holt sie Kanne und Pulver hervor, doch zum Kaffeekochen kommt sie nicht so recht. Zu viel gibt es zu erzählen. Wer wohnt schon in einem Kino?
Tieneke Verstegen, Jahrgang 1954 und von Beruf so etwas wie »kulturelle Projektentwicklerin«, wie sie sagt, lebt im Zentrum von Venlo. Sie selbst nennt sich auch »urbane Nomadin«. Seit mehr als 20 Jahren wohnt sie in Häusern oder Räumen, die ohne sie leerstehen würden: Anti-Kraak heißt das Modell, seinen Ursprung hat es im Amsterdam der 80er Jahre. Das Besetzen von Häusern (Kraken) war in den Niederlanden unter bestimmten Voraussetzungen damals noch legal: Das Recht auf eine Wohnung wog schwerer als das Eigentumsrecht der Immobilienbesitzer. Ein Makler kam deshalb auf die Anti-Kraak-Idee: Besitzer leerstehender Gebäude beauftragen Agenturen, vorübergehende Bewohner zu suchen. Die Abmachung: Statt Miete bezahlen die Wächter nur eine Nutzungsgebühr, in der Regel einen niedrigen dreistelligen Betrag. Dafür halten sie unliebsame Besetzer fern und die Immobilie in Schuss.
Der Kaffee ist fertig, Tieneke setzt sich an den langen Tisch in der Bar. Sie empfindet es als Ehre, hier zu leben. Als Auftrag sogar. Denn die »schlafende Schönheit von Venlo« ist für sie mehr als eine Wohnung. »Das City-Kino gehört zum kollektiven Gedächtnis der Stadt, jeder hat seine Erinnerungen.« Deswegen kommen immer wieder Gäste vorbei, Tieneke erzählt dann von der wechselvollen Geschichte des Hauses und seiner Besitzer, der »Kino-Dynastie« Caubo. Das Kino wurde im Krieg zerstört und wieder aufgebaut, starb in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trotzdem einen langsamen Tod. Anfang 2001 lief der letzte Film: Titanic. Nachdem Leonardo DiCaprio im Eiswasser versunken war, erlosch auch der Schriftzug am Gebäude.
1000 Quadratmeter für wenige Hundert Euro im Monat
Zeit für einen Rundgang. Tieneke öffnet die Tür zum großen Saal. Nachdem das Kino geschlossen war, wurde es zum Theater- und Konzertsaal umgebaut – ebenfalls ohne dauerhaften Erfolg. Sie lüftet den schweren, dunkelroten Vorhang. Dort steht das Gästebett. Tieneke selbst duscht in der Artistenumkleide hinter der Bühne. Den Keller eingerechnet wohnt sie auf 1000 Quadratmetern. Für wenige Hundert Euro im Monat.
Das Hausbesetzen ist zwar seit 2010 auch in den Niederlanden verboten, Anti-Kraak als Wohnkonzept aber ist geblieben. Vermittler bieten ihre Dienste inzwischen auch im Ausland an. Camelot zum Beispiel, eines der großen Anti-Kraak-Büros, ist in neun Ländern tätig, auch in Deutschland. Dort betreue man eine dreistellige Anzahl von Gebäuden, sagt Karsten Linde von »Camelot Europe« in Düsseldorf. Pro Immobilie bezahlen die Hauswächter 199 Euro. In NRW sind derzeit etwa ein Industriegebäude in Nettetal, eine leerstehende Schule in Düsseldorf-Rath, Zimmer im früheren Hauptzollamt in Münster oder in einer Polizeistation in Kamen im Angebot. Vor dem Abriss der Gebäude hatte Camelot fast 20 Studenten in der Oberfinanzdirektion in Münster untergebracht. »Bei uns steht allerdings die Bewachung einer Immobilie durch die Hauswächter im Vordergrund«, erklärt Linde. Wer in Deutschland auf eine leerstehende Immobilie aufpasst, darf dort zwar übernachten, muss aber noch einen Erstwohnsitz haben. Die Wohnungsnot lindert Anti-Kraak daher nur bedingt. Und auch in den Niederlanden ist das Konzept durchaus umstritten. Denn Anti-Kraker müssen sich Regeln unterwerfen, die in erster Linie auf die Interessen der Immobilienbesitzer zugeschnitten sind. Die Rechte der Hauswächter sind im Vergleich zu denen von Mietern deutlich beschnitten. Sie müssen innerhalb von vier Wochen ausziehen, wenn sich ein Käufer gefunden oder der Besitzer andere neue Pläne hat. Mit Kindern auf dieser Weise zu wohnen, ist deshalb verboten.
Auch Tieneke Verstegen kennt die Nachteile von Anti-Kraak. »Man muss sorgfältig mit dem Konzept umgehen«, findet sie. Die Hauswächter wiederum müssten die passende Einstellung haben. Sie selbst ist finanziell nicht auf das Konzept angewiesen – sondern einfach Überzeugungstäterin. »Ich mag die Resträume in der Stadt. Auch besetzte Häuser waren früher kreative Brutstätten.« Tieneke konnte bisher immer lange in ihren Unterkünften bleiben. Auch für das City-Kino gibt es derzeit keine Nutzungspläne. Und wenn es doch einmal anders kommt? »Dann sehe ich mich nach neuen Abenteuern um.«
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