Mit seiner Vertonung des Puschkin-Textes von „Eugen Onegin“ schuf Peter Tschaikowsky die große russische Oper. Melancholie und Sehnsucht, der Gegensatz zwischen Weite des Landes und weltläufiger Stadt, die Gemengelage, die allen Revolutionen zum Trotz das ausmacht, was als „russische Seele“ gilt. Im Musiktheater im Revier wird das Stück im kleinen Haus gezeigt – eine zunächst befremdliche Setzung. Wohin mit den großen Fest- und Ballszenen, in denen der Chor und Orchester den vollen Tschaikowsky-Sound schwelgen lassen? Andererseits wirkt die intime Handlung auf der großen Opernbühne oftmals verloren, wo die inneren Spannungen der Personen, die allein mir sich oder im Zwiegespräch ausgetragenen Gefühlskonflikte kaum in den Saal zu transportieren sind.
Demokratie auf der Bühne
Ohnehin ist es ein merkwürdiger Luxus, dass ein Opernhaus über eine kleine Bühne verfügt. Das kleine Haus in Gelsenkirchen ist Ausdruck des Musiktheater-Verständnisses seiner Bauzeit, der Demokratisierung, des experimentellen Aufbruchs in der Oper. Benjamin Britten begründete mit „Der Raub der Lukretia“ in den 1940ern das Genre der Kammeroper. In rascher Folge entstanden Werke, ein umfangreiches Repertoire, zu dem unter anderen Gottfried von Einem und Boris Blacher, Siegfried Matthus und Bruno Maderna Beiträge lieferten. Ganz bewusst baute Werner Ruhnau das kleine Haus in Gelsenkirchen als offenen Raum, ohne Guckkasten, flexibel bespielbar (wie zuletzt bei dem Ballett „Open (S)pace“ von Jeroen Verbruggen) als Raumbühne. Perfekt für die mannigfaltigen Experimente der Nachkriegszeit, in denen etwa Mauricio Kagel Grenzen – zwischen Bühne und Zuschauerraum, Theater und Konzert – auflöste.
Das alles ist heute allerdings weitestgehend aus dem Repertoire verschwunden, selbst wenn auch aktuell noch Kammeropern komponiert werden. Viel zu groß ist das Risiko für ein Haus, zu gering die Akzeptanz und der Willen, sich auf Ungewohntes einzulassen, beim Publikum. Kagels instrumentales Theater „Staatstheater“ würde für die Musiker einen hohen Aufwand in der Einstudierung bedeuten und wohl kaum mehr als wenige Aufführungen überstehen. Für gelegentliche Song-Abende oder ausschließlich Kinder- und Jugendproduktionen ist der Raum allerdings zu schade. Kleinere Ballettproduktionen sind eine gute Möglichkeit der Bespielung. Das alles mag auch zu der Entscheidung beigetragen haben, „Eugen Onegin“ an diesem Ort zu versuchen.
Nur elf Musiker
Die Kammermusikfassung der Oper von André Kassel existierte bereits. Gerade einmal elf Musiker braucht er: Ein Streichquartett, Kontrabass, Horn, Fagott, Klarinette, Klavier/Celesta, Akkordeon und Schlagwerk unter dem Dirigat von Thomas Rimes. Es braucht einen Moment, um sich in den Klang einzuhören. Insbesondere das Akkordeon ist ungewohnt, gibt Tschaikowskys Partitur gelegentlich etwas kaffeehausartiges. Doch mehr und mehr entfaltet das Kammermusikalische auch einen eigenen Reiz. Gerade in der Briefszene im ersten Akt findet Kassels Version zu ungeahnter Farbigkeit und Innigkeit. Am Beginn des zweiten Aktes, wenn die Dorfgemeinschaft den Ball anlässlich Tatjanas Namenstag feiert, ist der Kammerorchesterklang geradezu ideal und verleiht der Szene einen überragenden Realismus. Oftmals gewinnt Tschaikowskys Komposition sogar durch die reduzierte Besetzung: In den Ensembles tritt die psychologisch hochinteressante Stimmführung wesentlich hörbarer in den Vordergrund.
Der Psychologie der Handlung ist der intime Rahmen ohnehin zuträglich. So genau und unmittelbar wie hier ließe sich niemals auf der großen Bühne all den feinen Zweifeln und Sorgen, der überschwänglichen Verliebtheit und dem Ringen um das Aufrechterhalten der gesellschaftlichen Fassade folgen. Weder bei Tatjana im ersten Akt, noch bei Lenski im zweiten oder Onegin im dritten, die alle ihre jeweils eigene Tragödie durchleben.
Meisterstück der Personenführung
Diese Nähe zu den Personen auf der Bühne stellt gleichfalls die größte Herausforderung dar. Die aufgeplusterte Opern-Geste wäre hier gänzlich fehl am Platz. Stattdessen braucht es echtes Schauspiel. Regisseurin Rahel Thiel hat überaus genau mit ihrem Ensemble gearbeitet. Gelungen ist ihr ein Meisterstück der Personenführung, das so in der Oper nur ganz selten zu sehen ist. Allen voran Bele Kumberger singt und spielt eine Tatjana von anrührender Unmittelbarkeit und Ehrlichkeit. Lina Hoffmann ist eine Olga mit frischer Unbefangenheit und Natürlichkeit, die ebenso überzeugend den Zweifel an ihrem Weltbild immer in sich trägt. Petro Ostapenko füllt die immer zwiespältige Rolle des Onegin perfekt aus. Schon in der Antwort auf Tatjanas Brief ist er weit entfernt von bloßer Kaltherzigkeit.
Doch nicht nur darstellerisch ist das kleine Haus eine Herausforderung, auch stimmlich. Die sehr direkte Akustik verzeiht nichts. Da gibt es kein Verstecken im großen Klangrausch. Das gilt auch ganz besonders für den Chor. Wenn er über den durch den Zuschauerraum gebauten Steg auftritt, ist jede Einzelstimme klar zu hören. Für das Gelsenkirchener Ensemble kein Problem. Ebenfalls beeindruckend: Die Filipjewna von Almuth Herbst (im Programmheft nicht erwähnt). Als volumenreicher Mezzosopran überzeugte sie zuletzt noch in „Königkinder“ im großen Haus. Hier nun nutzt sie die freigewordenen Kapazitäten durch den kleinen Raum, um einen fast beiläufigen Gesang zu zeigen, der in bestens verständlichem Russisch daher kommt. Das gilt auch für Michael Heines Gremin, der auch in der kammermusikalischen Umgebung die ganze Würde und Schönheit seines Basses entfaltet. Der junge Khanyiso Gwenxane singt den Lenski zu Beginn mit etwas zu viel italienischem Gestus, findet aber dann in der Duellszene zu einem ehrlicheren und wirklich anrührenden Ton. Tobias Glagau liefert als Triquet ein kurzes aber gleichermaßen eindrucksvolles Kabinettstück und Noriko Ogawa-Yatake ist eine in ihrer Desillusioniertheit die Würde bewahrende Gutsbesitzerin Larina.
Größtmöglicher Realismus
Rahel Thiel nutzt in ihrer Regie die Qualität der Intimität. Das heißt auch, dass sie sich ganz darauf konzentriert, die Geschichten aller Personen bis in feinste Regungen auszuerzählen. Es geht ihr nicht um ein Konzept – in diesem Fall ist das ein Glück –, sondern um den größtmöglichen Realismus des Spiels. Fast könnte man sich an die Tschechow-Inszenierungen eines Alvis Hermanis erinnert fühlen. Dafür hat Dieter Richter ihr ein herrliches Bühnenbild gebaut. Zunächst blicken wir in die (gemalte) Weite eines Birkenwaldes. So täuschend echt in seiner Dimension, dass manchmal fast die Darsteller*innen zwischen den Stämmen herumzulaufen scheinen. Für das Namenstagsfest hat Richter eine Verwandlung (ohne Schnürboden oder andere aufwendige Bühnentechnik) erfunden, die wirklich überrascht und den gesamten Zuschauerraum vereinnahmt. Nach der Pause dann in der Duell-Szene erscheint der Birkenwald vom Anfang als Negativ. Drei Kronleuchter lassen daraus das Palais des Fürsten Gremin werden. Ein Übriges tun die großartigen Roben der Damen der Festgesellschaft. Renée Listerdal besorgte die Kostüme, die den feinen Realismus der Inszenierung stützen. Überzeugende Idee: Die Robe von Tatjana im dritten Akt, die sich mit ihrem blassblau-weißen unregelmäßigen Muster fast als Teil des Birkenhintergrundes ausnimmt, als sei sie ein schönes Dekorationsstück in Gremins Festsaal.
Mit „Eugen Onegin“ ist in Gelsenkirchen ein meisterhaftes Stück Musiktheater gelungen. Ohne den großen rauschhaften Orchesterklang werden die Gefühle und die Psychologie der Personen bloßgelegt und gelangen zu einer Echtheit und Einfachheit, die unmittelbar mitreißt. Möglich macht das vor allem ein perfektes Zusammenspiel aller an der Produktion beteiligten Personen und Gewerke. Herausgekommen ist ein gleichermaßen ungewöhnlicher wie nahezu perfekter Opernabend.
Termine:
9., 16., 21., 29. März
3., 5., 7., 10., 12., 22., 28. April
5. Mai