Er gehörte zu den großen Interpreten und Repräsentanten des europäischen Theaters und Films. Bruno Ganz steht für das Autorenkino des Neuen Deutschen Films, durch seine Zusammenarbeit mit Wim Wenders sowie mit Geißendörfer, Handke, Hauff, Petersen, Schlöndorff. Sein „Nosferatu“ mit Werner Herzog suchte und fand die Anbindung an die Geschichte des deutschen Films und an F.W. Murnau, seine Arbeit mit Eric Rohmer und dem großen Griechen Theo Angelopoulos („The Dust of time“), mit Atom Egoyan oder jüngst mit Sally Potter („The Party“) und Lars von Trier zeigte, dass er dem Experiment aufgeschlossen war und zeigte ebenso, dass die Regisseure des Weltkinos wussten, welche Kostbarkeit sie mit Bruno Ganz ‚besetzten’.
Aufbruch des Theaters
Mehr aber noch steht Ganz für den Aufbruch des Theaters in den 60er Jahren, verbunden mit Kurt Hübner, Peter Zadek, Peter Stein, Claus Peymann und Klaus-Michael Grüber. Der Schweizer, 1941 in Zürich geboren und von leiser, kluger, auch verschmitzerer Feinheit, wurde – seltsamerweise – wie kaum ein Zweiter zum Darsteller deutscher und vermeintlich deutscher Tiefe – mit „Tasso“, „Hamlet“, „Faust“ – und deutscher Untiefe (als Grauen und schauderndes Erbarmen erregender Hitler in „Der Untergang“). Bruno Ganz – das ist, nein, das bleibt: der Schauspieler als Denker und Mitdenker. So im Jahr 2000 als Steins Expo-„Faust“ – der Freigeist in der Gelehrtenrepubik, der keinen toten Vers sprach, auch wenn um ihn her ein Museum oder Mausoleum errichtet schien.
Es gibt eine wunderbare Dokumentation mit und über Bruno Ganz, die bei der 26. Duisburger Filmwoche gezeigt und damals auch in kultur.west besprochen wurde. Wir haben sie aus dem Archiv gefördert zu Ehren von Ganz, den ich damals auch in Duisburg traf, um mit ihm über seine Arbeit zu sprechen.
„Hast du den leichten Tag gesucht?“, fragt Faust in seiner Gelehrtenstube. „Vielleicht vor dem Stück“, raunzt Bruno Ganz schmunzelnd während einer Probe mit seinem Regisseur Peter Stein, als er bereits einmal an dieser Textstelle – dieser „constructio infernalis“, wie er einwirft – einen Hänger hatte, auf den noch ein zweiter und dritter folgen wird. Als ginge ihm das „leicht“ nicht über die Lippen. Es wäre zu schön einfach, diese Blockade psychologisch zu deuten: Bruno Ganz nimmt es halt ernst, macht es sich nicht leicht. Die Szene steht am Anfang von Norbert Wiedmers Film „Behind me“.
Zuerst hört man nur seine Stimme, leise, intensiv, nicht sehr deutlich – dieser Sound gibt den Rhythmus des Films vor, der weniger Dokumentation ist, sondern – im Verzicht auf Kommentar, erklärend biographische Daten, ausgiebiges Werkverzeichnis oder Statements vor der Kamera – einem Essay gleicht. Der gelungene poetische Versuch einer Annäherung, während eines Zeitraums von drei Jahren. Die „Faust“-Produktion, die zur Expo in Hannover entstand, ist neben der Lesung von T. S. Eliots „Waste Land“ für die Aufnahme einer Hörbuch-CD Arbeitsgrundlage des Films. Und enthält mithin das Motiv des Suchens, Erfahrens und Erkennen-Wollens, das Goethes so deutsche Dramenfigur umtreibt. Gegen Ende des eineinhalbstündigen Films wird der ungemein präzise Schauspieler, dem Sprache und Geste das Wichtigste sind und der bis in die Fingernägel so akkurat scheint, dass auch sonst keinerlei Wildwuchs an diesem Mann möglich sein dürfte. Am Ende also wird er sagen: „Ich habe mit dieser Figur nichts zu tun.“ Der deutsche Sonderweg ist der seine nicht. „Der Faust hat kein Schicksal, anders als die Figuren Shakespeares“, sagt er bei einem Treffen am nächsten Morgen in Duisburg.
Etwas „Solides“ sollte er ja auf Wunsch des Vaters lernen, bevor er Schauspieler wurde, berichtet die Mutter in einer in „Behind me“ eingeschnittenen älteren Porträt-Episode über ihren Sohn Bruno. Ein ordentlicher Mensch – Ist er streng mit sich? „Eher als nicht“, antwortet er lakonisch – und spricht von seiner „ziemlich ausgeprägten Vorstellung von Ordnung", die ihm zwar auch unheimlich sei, die er aber brauche, „sonst versinke ich im Chaos“. Es sei, als würde sie „außen einen Damm errichten gegen die Sturmfluten“. Wie bei allem, was er sagt, mit Bedacht wählt und mit Genauigkeit füllt, fühlt man die uneitle Haltung eines Künstlers zu seiner Existenz, den „besonderen osmotischen Prozess“ zwischen Leben und Werk. Das normale Leben habe „so viele Banalitäten, Wiederholungen, Niederziehendes, dass dieses Gegengewicht fantastisch“ sei: dieser Beruf, den er aber wie den „Zucker von Glück, Geld und Erfolg“ über sein Leben streue.
Im Anfang war der Sinn. So müsste Bruno Ganz als Faust für sich die berühmten Anfangsverse der Genesis aus dem Griechischen übersetzen. Allein, in der Studierstube fühlte er sich nie wohl: „Ich war fremd in diesem Raum, er hat mich abgestoßen. Diese ganze Geisteswelt habe ich nie wirklich begriffen. Und so habe ich mich durch den Text gepanzert.“ Ihn zog es ins Freie, gleich dem Doktor Faust beim Osterspaziergang. Das Faust-Unternehmen habe Stein wie „der Theaterdirektor Goethe“ angefasst; rein um Handwerkliches sei es gegangen. Dieser „eisernen Theaterpragmatik“ begegnet Ganz mit Skepsis. „Wir haben nicht gesponnen“, wie etwa damals an der Schaubühne, wo sich gedanklich weite Räume auftaten in der Beschäftigung mit Texten und diese kollidierten mit der heutigen Welt.
Als Beispiel nennt er den 1975 gemeinsam mit Grüber und Dieter Sturm entwickelten „Hölderlin/Empedokles“-Abend in ihrem „Kreuzberger Loch“, wo sich in der behutsamen Beschäftigung mit dem Dichter ein „Koordinatensystem“ ergeben und sich „black holes“ eröffnet hätten: „Nichts davon gab es bei Faust.“ Er könne, sagt er, diesen „negativen Snobismus nicht verstehen, wenn Künstler meinen, autark sein zu müssen und nicht zu lesen brauchten.“ Auch wenn er weiß, dass die „Paläste an Wissen“ erdrückend und gefährlich sein können, weil „Naivität und Frische“ verloren gingen.
Das Innerliche, in sich Gekehrte, Weltweise, Sinnstiftende kennzeichnet Bruno Ganz‘ Spielen: die Sensibilität, „mit Worten einen poetischen Körper zu schaffen“, wie er in dem Film sagt. Diese Wachheit für Wahrnehmungen, eine Aufnahmelust und milde Menschen-Neugier erfährt man auch im Gespräch mit ihm. Während der Verleihung des Berliner Theaterpreises 2001, die „Behind me“ ebenfalls dokumentiert, hält sein junger Kollege Jens Harzer die Laudatio auf Ganz und zitiert Paul Celan: „Geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.“
Manchmal, wenn er verschmitzt lacht, listig und eigen, breitet sich das Humoristische seines Naturells über sein Gesicht, bis in die Knautschzone seiner Nase. So, in liebkosendem Glücksgefühl, hat er als Engel Damiel geschaut in Wim Wenders‘ „Himmel über Berlin“ – und ist Mensch geworden. So packt er sich als Faust mal den Mephisto Robert Hunger-Bühler oder amüsiert sich über den anderen armen Teufel, Johann Adam Oest. Da ist es, als hole Ganz – wie Prometheus – das himmlische oder auch hellenische Licht herab und ließe es leuchten ins deutsche Dunkel, in die Nacht und Nebel der Romantik, ins klirrende Eismeer scheiternder Hoffnung.
In „Behind me“ steht Bruno Ganz in einer Doppelung hinter sich und ist hinter sich her. Die vielfach variierte wunderbare Nahaufnahme erweitert sich zugleich zur Reflexion einer solch intimen Begegnung und Beobachtung des Allereigensten, ohne dabei im Geringsten privat verplaudert zu sein: ob Ganz selbst in filmdramaturgischer Pflichterfüllung die Videokamera zur Hand nimmt und sich abbildet; ob er seine ihn lange vertraute Agentin filmt, was die in aktivem Widerstand heiter duldet; ob er Bilder der Fotografin Ruth Walz anschaut und diese vor sein Objektiv holt, darunter Aufnahmen von Botho Strauß, Handke und Grüber, dem Ganz selbst plötzlich ähnlich wurde, als er graubärtig für Angelopoulos als Dichter Alexander „Die Ewigkeit und einen Tag“ durchschritt. Oder wenn Wiedmers Kompositionsprinzip in seiner offenen und dabei exakt strukturierten Form einen weiteren Fremd-Bestandteil organisch integriert: Szenen aus dem träumerischen Schwarz-Weiß-Film „Heller Tag“, in dem Bruno Ganz einen Kranken spielt und Märchenerzähler ist für ein kleines Mädchen.
Vor allem jedoch, wenn Bruno Ganz Venedig belichtet. Denn „Behind me“ ist auch und besonders ein Film über erfüllte Italien-Sehnsucht. Und diese unmögliche, über den Wassern schwebende Stadt, die Ganz während der Dreharbeiten zu „Brot und Tulpen“ erst wirklich kennen lernte und in der er nun eine Wohnung besitzt. Ja, er habe eine Beziehung zum Wasser, weil die Schweiz ein so eingeschlossenes, einengendes Land für ihn sei: „Häfen ziehen mich unheimlich an. Das ist wie eine Verheißung“, wenn vor seinem Fenster zwölfstöckige Kreuzer und Fähren vorüberführen. „Ufer der Verlorenen“ heißt das vielleicht schönste Venedig-Buch überhaupt, ein Poem in Prosa des russischen Nobelpreisträgers Joseph Brodsky. „Behind me“ könnte auch Gefundenes Ufer heißen.