Nach 20 Minuten setzt die Musik ein. Ulkig schaukelnde elektronische Sounds von Planningtorock, die an Bläser erinnern. Später werden die von einem geraden Beat getrieben in Fahrt kommen, doch von der Bewegungssprache bleibt die Musik bis zum Schluss unabhängig, rein atmosphärische Folie.
Zunächst sehen wir den Tänzer*innen des Cullbergballetten beim Seilspringen zu. Auf turnhallengrauem Linolium mit den charakteristischen farbigen Spielfeldbegrenzungen erfolgt das Aufwärmen in immer wechselnden Gruppen. Hinten eine aufgeständerte Wand wie am Rand eines Baseballfeldes für die Spielstandanzeige, die hier als Screen für die Videos von Imogen Heath dient. Ein gutes Drittel des Bühnenraumes nimmt ein grauer Block mit orangenem Sockel ein (Set-Design: Stephanie Rauch), hinter dem die Tänzer*innen immer wieder verschwinden und erneut auftauchen.
Einige Griffe wie an einer Kletterwand, aber der Block könnte auch die Rückseite von Spindschränken im Umkleidebereich sein. Stephane Peeps hat das Ensemble in Sportkleidung gesteckt. Ein Tennisrock hier, ein Fußballtrikot dort, etwas American Football, ein Ringerbody, Jogginghose und Fechter-Anzug, Boxerhose und Aerobicdress. Alles in den Einzelteilen erkennbar, aber so unspezifisch durchmischt, dass es kein Ensemblemitglied einer Sportart direkt zuordnet.
Auf der Suche nach Ordnung
Während zu Beginn fast 15 Minuten nur Seil gesprungen wird, sucht das Auge – manchmal auch das Ohr – nach einer verborgenen Ordnung. Ergibt sich dort ein Rhythmus der Schritte? Wird der Sound der durch die Luft surrenden Seile zu Musik? Sind die Gruppen zufällig oder etablieren sie Mannschaften, soziale Zusammenhänge?
„On The Cusp“ ist Ian Kalers erste Arbeit für ein Ensemble dieser Größe. Zuvor entwickelte der Österreicher choreographische Performances und Filme in kleiner Besetzung und tanzte meist selbst. Als Deutschlandpremiere zeigt er nun mit dem Cullberg-Ballett auf PACT Zollverein eine intelligente, humorvolle und manchmal auch brutale Arbeit über den Sport als Gesellschaftsparabel – als wäre Elfriede Jelineks Sportstück zu Tanz geworden.
Als ein großer Körper kriecht das gesamte Ensemble an der Wand entlang, versucht sich zeitlupenartig gegenseitig vor dem Absturz zu bewahren, ballt sich wie auf dem Rugbyfeld. Boxtraining vermischt sich mit HipHop-Battle, High-Five-Abklatschen und Gesellschaftstanz. Zwischendurch wird ganz entspannt am Spielfeldrand geplaudert. Über die Taktik des nächsten Spielzuges, Entspannungstechniken oder die Party der vergangenen Nacht? Wie Trainingseinheiten reihen sich die Szenen aneinander und entwickeln durch minimale Variationen der Bewegung changierende Assoziationsräume.
Erinnerung an den Sportunterricht in der Schule
Gruppe, Einzel, Mannschaften, Spiel, Wettkampf, gewalttätige Auseinandersetzung. On The Cusp – Auf der Schwelle. Genau dort balanciert Kalers Choreographie über weite Strecken des Abends in brillianter Art. Und dabei ist sie immer unmittelbar zugänglich, wirkt nie verrätselt. Auch, weil die Welt in der Turnhalle und auf dem Sportfeld eine allgemeingültige ist, mit der jeder Zuschauer eigene Erfahrungen verbindet. Nach dem Abpfiff folgt ein kurzes Video auf der Anzeigetafel. Kinder in einer Turnhalle, vor Beginn des Trainings. Erinnerungen an den Sportunterricht in der Schule. An den Spaß, aber auch die Verletzungen, die Traumata. Daran, dass man vielleicht immer als Letzte*r in die Mannschaft gewählt wurde, dass hier Körperlichkeit und die Geschlechterdifferenz zum ersten Mal bewusst wurde, dass Muskelstärke und Geschicklichkeit in der Turnhalle plötzlich das soziale Gefüge ganz neu ordnen.
Weitere Vorstellung: 9 Februar, 20 Uhr, PACT Zollverein, www.pact-zollverein.de