In der Filmprojektion zu Beginn ist es deutlich zu sehen: das Ortseingangsschild von Gelsenkirchen. Im Hintergrund eine Trümmerlandschaft. Der rasante Aufstieg der Neugründung Mahagonny, das ist der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg im Ruhrgebiet, die Wirtschaftswunderjahre. Eine Hakenkreuz-Binde und eine Uniformmütze mit Reichsadler, die noch vom Mitläufertum übriggeblieben sind, werden schnell im stehengebliebenen und wiederangefeuerten Hochofen entsorgt, damit es richtig los gehen kann mit dem schönen neuen Leben im aufblühenden Kapitalismus.
Kurt Weills und Bertold Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ hat zwar einige weltbekannte Hits zu bieten, findet sich aber weit seltener auf den Spielplänen wieder als ihre „Dreigroschenoper“. Viel mehr als diese ist das Stück tatsächlich Oper, mit nur ganz wenigen Sprechtexten (die in Gelsenkirchen technisch perfekt verstärkt werden) und wesentlich anspruchsvolleren Gesangspartien. Weills mit Zitaten gespickter Eklektizismus wechselt von Chorälen zu revuehaften Songs, geht an die Grenzen der Tonalität, spielt mit Jazz-Rhythmen und komplexen polyphonen Gesangensembles. Am Musiktheater im Revier ist es eine sehr bewusste Entscheidung, „Mahagonny“ als moderne Oper der 1920er Jahre zu spielen.
Leokadja Begbick, Fatty und Dreieinigkeitsmoses stranden mit kaputtem Auto mitten in der Wüste. Der Weg zu den Goldminen ist zu weit und zurück geht es auch nicht, weil sie dort die Verhaftung erwartet. Sie beschließen, eine neue Stadt zu gründen und Geld nicht durch ehrliche Arbeit zu verdienen, sondern den Goldschürfern lieber das hart verdiente Geld durch bezahltes Vergnügen aus der Tasche zu ziehen. Das funktioniert zunächst ganz gut, aber allzu geregelt ist die Paradiesstadt. Langeweile und Ruhe stellen sich als die größten Feinde der kapitalistischen Utopie heraus. Der Hedonismus braucht grenzenlose Freiheit und immer neue Sensationen: Fressen, ficken, kämpfen. So werden alle Regeln über Bord geworfen. Es bleibt nur eine einzige zurück: Der Kunde muss bezahlen können. Als Paul Ackermann nach drei Flaschen Whisky das Geld ausgeht, kommt er vor Gericht und wird zum Tode verurteilt.
Der Ansatz von Regisseur Jan Peter, das Geschehen in die deutsche Nachkriegszeit – und ins Ruhrgebiet – zu verlegen, geht im ersten Akt hervorragend auf. Statt Gold wird Kohle geschürft und der herannahende Hurrikan, der die Einwohner Mahagonnys zum Umdenken bringt, wird zur atomaren Aufrüstung und Bedrohung des Kalten Krieges. Erzählt wird das immer wieder durch historische Filmeinspielungen – Jan Peter ist von Hause aus Filmemacher – und ist in seiner oft verstörenden Deutlichkeit durchaus schlüssig.
Im von Bertold Brecht äußerst drastisch angelegten zweiten Akt, in dem die stets tötlich endenden neuen Vergnügen in der Stadt durchexerziert werden, versucht sich Jan Peter dann an einer Ästhetik des Splatterfilms. Da wird der unterlegene Boxkämpfer einfach mal mit Kettensäge zerlegt. Die Würstchen-Fressorgie findet direkt auf der Toilette statt. „Das große Fressen“ und „Texas Chainsaw Massacre“ grüßen von weitem. Leider von zu weitem. Das bleibt alles doch sehr brav und opernhaft. Und zuletzt ist Brechts Text hier heftiger und expliziter als alles, was auf der Bühne zu sehen ist. Gleichzeitig verliert die Inszenierung die direkte Verschaltung mit der bundesdeutschen Geschichte aus dem Auge. Erst mit der kurzen Filmeinblendung einer Demonstration kehrt dieses Element zurück. Leider ist in der Kürze kaum auszumachen, um was für eine Demonstration es sich handelt – es sind Bilder der 68er-Proteste in Paris. Warum nicht die Pegida-Marschierer und die AfD?
An den Schluss stellt das Regieteam den Benares-Song aus der Mitte des dritten Aktes und zeigt dazu die Skyline Shanghais. Noch einmal eine dieser klugen Ideen, die den ersten Akt prägten. Nach dem Niedergang Mahagonnys zieht die kapitalistische Horde einfach weiter.
Auf der Drehbühne von Kathrin-Susann Brose bleibt Jan Peters Personenführung allzuoft nur arrangiertes Bild. Da wäre mit dem bekanntermaßen sehr spielfreudigen Sängerensemble des MiR und dem Chor mehr drin gewesen. Musikalisch allerdings zeigt sich das Musiktheater – allen voran die Neue Philharmonie Westfalen unter Thomas Rimes – wieder bestens aufgelegt. Dadurch und durch den schlüssigen ersten Akt bleibt vor allem eine Erkenntnis des Abends: „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ hat uns heute noch viel zu erzählen. Vielleicht mehr als die „Dreigroschenoper“, die im direkten Vergleich doch eher inhaltlich brav abschneidet.
Aufführungen: 2./14./22. Februar, 17./22. März, 14./20. April, 4. Mai