Wenn Friedrich Schillers „Don Karlos“ nicht ungekürzt über die Bühne gehen soll, gilt es zu entscheiden, bestimmte Beziehungslinien zu ziehen, andere Fäden zu kappen. Sollen die Korridore der Macht in Philipps Spanien oder die Herzkammer des Gefühls ausgeleuchtet werden, stehen der Vater-Sohn-Konflikt, die Krise der Freundschaft, der Leidensdruck unerfüllbarer Liebe, das Drama von Verrat, Treue, Misstrauen im Zentrum dieser Wort-Oper?
Es ist ein Königsdrama, nicht allein mit Blick auf sein Figuren-Kabinett, auch als Gütesiegel. Würde man einen Konstruktionsplan dieses gewaltigen Stücks – ja, Weltgebäudes – zeichnen, würde sich ein so klar gegliedertes wie komplex gefügtes Gesamtbild ergeben. Ein Bild und eine Innenbeschau, über die der Autor präzise Auskunft zu geben wusste. Denn es gab Nachfragen. Friedrich Schiller beantwortete sie 1788 in zwölf Briefen. Ein Werkstattbericht aus seiner Gedankenfabrikation: planvoll durchdacht, selbstkritisch, überlegen, kühn, jedes Argument und jede Gegenrede im Voraus erwogen. Man kann neidisch werden. Man muss bewundern.
Im Düsseldorfer Schauspielhaus deutet sich das Werk vom Ende her: als finsteres Spiel mit Menschen – mit ihren Blutkörpern. Lange zwei Stunden hat es gebraucht, bis erst nach der Pause und dem behäbig-braven Anlauf das Durchdrehen der Schraube passiert, bis aus Kostümköpfen, die ihre Verse striegeln, scharfkantige Charaktere sich schälen und an sich wund reiben. Zwischen Gittern eine Welt: Die schräge Rampe der ersten Akte ist auf der Central-Bühne nun zum Drehkreuz gevierteilt. Ein Tower, zuvor randständig, beherrscht jetzt die Mitte.
Von dieser höheren Warte aus betrachtet Marquis Posa den Staat und seine Wesen, überlegen, alles überblickend oder darüber hinweg schauend. Was er sieht, ist sein Jugendfreund (Jonas Friedrich Leonhardi), bockig, mit geschminktem Kussmund und bloßen Beinen unterm Wams, der auf den Schoß möchte, unter die Röcke seiner Stiefmutter kriecht und weinerlich winselt: Karlos, ein Bubenstück.
Das kann der Weltbürger und „Abgeordnete der ganzen Menschheit“, wie später die Königin Elisabeth dem Posa aufgebracht entgegenschleudert, als sei sein hohes Sinnen nur Eitelsinn gewesen, nicht dulden noch ertragen. Er muss den Prinzen in seinem Eigennutz zur Besinnung bringen: für die höhere Sache, für Flandern und die Niederlande. Im Zwiegespräch mit Philipp ist Posa bei André Kaczmarczyk, wenn er still bei sich „Gedankenfreiheit“ fordert, mehr Naturgeschöpf, träumerischer Kleist-Held und reine Unschuld als intellektueller Republikaner.
Dass die Zerstörungskräfte im Guten wie Bösen im Innern der Figuren Verheerungen anrichten, lässt sich in Alexander Eisenachs Inszenierung hier noch nicht erkennen. Noch ist alles Konvention und Schlimmeres: Albernes, Kindereien, Dummheiten, so wenn Philipp verräterische Briefe aus einem Zettelkasten mit Klassiker-Zitaten schüttelt, um diese zu verhöhnen. Noch auch bleibt das Sprach-Theater ebenso rhetorisch wie das Körper-Theater, ob die Darsteller dabei einander nahe kommen oder räumlich Distanzen aufziehen.
Dann aber gerät die reliefartige Aufführung in die Rotation. Es ist, als würden Posa, Karlos, Philipp, Elisabeth und die Eboli ihr Korsett sprengen und, indem sie die Facon verlieren, lebendig sein im Überschwang. Sie werden zu Anderen – oder werden sie selbst. „come as you are“ steht, mit einem Song von Nirvana, an der Rückwand.
Die lammfromme, gymnasial wirkende Elisabeth (Lea Ruckpaul) schlägt sich willentlich die Stirn blutig und entdeckt souverän den Furor. Prinzessin Eboli (Lou Strenger) zersetzt ihren Liebeswahn im eigenen seelischen Säurebad. Alba orakelt als rot gefiederter Todesengel von „Selbstermächtigung“. Philipp, den Wolfgang Michalek als sauber glattrasierte Maske zeigte, schmiert nach Posas Tod sein rohes Fleisch weiß ein zum monströs gefärbten Trauerkloß: ein Gespenst der Unfreiheit, mehr bei Francis Bacon als bei Francisco Goya. Posa, der große Vabanque-Spieler, outet sich bei André Kaczmarczyk zum elegant graziösen Nachtschattengewächs, ganz gespannt auf seine Nervenstränge und wie mit sich selbst in Zwietracht. In zeremoniöser Ich-Ekstase richtet er sein eigenes Blutbad an – Er, ein mythisch Zerrissener.
Zeit für den Inquisitor Kardinal und seinen Spruch. Als salopper Alltagsmensch ist Karin Pfammatter eine pragmatische Ideologin der Vernichtung. Ein Gespenst der Vernunft. Lächelnd leise nimmt sie sich Karlos. Für einige Zeilen aus Schillers „Ästhetischer Erziehung des Menschen“ versammelt sich das Achter-Ensemble zum Epilog, währenddessen es – fast selbstversunken – mit niedergeprasselten kleinen roten Bällen spielt. So zärtlich ist die Nacht. Und so tödlich.
Termine: 22. Dezember, 12., 18., 23. Januar, 8. Februar, Central