In diesem Paris, Schwarzweiß und bei milchig trübem Licht, könnte an jeder Ecke Camus’ Fremder stehen, könnte die Kamera von Henri Cartier-Bresson die Seine und Notre Dame fotografiert haben, sehen die Tage aus, als breche über sie Antonionis »La Notte« herein. Ein Jazzclub hier in den 50-er Jahren heißt »L’Eclipse« – Verdunkelung. Dort spielt der heimatlose Pole Wiktor als Pianist, der einige Jahre zuvor von Ostberlin aus seinen Koffer genommen hat und fortging. Zula, die Liebe seines Lebens, sollte mit ihm kommen. Am Grenzübergang hat er auf sie gewartet. Vergebens. Einmal singt Billie Holiday den Blues. Während des Abspanns erklingen Bachs Goldberg-Variationen.
15 Jahre erzählt Pawel Pawlikowski in »Cold War« und schreitet den »Breitengrad der Liebe« ab, von 1949 bis 1964, von Polen nach Frankreich und zurück. Der in Cannes mit dem Regie-Preis ausgezeichnete, ebenso bittere wie exquisite Film nutzt als Stilmittel die Ellipse, arbeitet mit Auslassungen und Leerstellen. Übergänge fehlen. Die Zäsuren schneiden schmerzend scharf ins Fleisch der Geschichte.
Im winterlichen, ärmlichen Nachkriegs-Polen suchen einige, heute würde man sagen, Talentscouts begabte Jugendliche, die musizieren, singen und tanzen können. Der Komponist Wiktor (Tomasz Kot), der traditionelle Weisen sammelt, meist traurige Liebeslieder, und sie neu arrangiert, bildet das Kollektiv Mazurek mit aus – unter Aufsicht der Partei und als Instrument im Dienst des Sozialismus. Die Truppe geht auf Tournee und reist zum Festival der Jugend in die Hauptstadt des Bruderlandes DDR. Dafür musste die Folklore nur noch zur Verherrlichung Stalins die Tonart wechseln. Die schöne Zula (Joanna Kulig), die Wiktor schon beim Casting aufgefallen war, ist anders: härter, unsentimental und ohne Nachsicht sich selbst gegenüber. Eine Figur wie Dostojewskis Gruschenka. Sie lieben sich, werden sich im Exil wiedersehen, sich trennen, neuerlich zusammenkommen. Zula wird in Paris singen und mit Wiktor eine Schallplatte aufnehmen und doch nach Warschau heimkehren, Wiktor ihr folgen und zur Lagerhaft verurteilt werden. Sie, nunmehr verheiratet, sorgt für seine Freilassung. Da Flucht nicht möglich ist, bleibt ihnen nur ein Ausweg. Die zerstörte Kirche, die wir am Anfang sahen, ohne Dachkuppel und mit Heiligen-Fresken unter bröckelndem Putz, dient dem Paar als Ort des Versprechens: bis dass der Tod sie scheidet. Was nicht lebbar ist, ist sterbbar. Dann wird es Abend, obgleich bei Pawlikowski die Sonne doch nie aufgegangen war.
»Cold War«, Regie: Pawel Pawlikowski, Polen / GB / F 2018, 89 Min., Start: 22. November 2018