Die Horizontale – im lichten Weiß, Grau, Blau – bestimmt die Optik. Zweimal allerdings schneidet ein Kondensstreifen vertikal in die Fläche des Himmels. Die Natur in der Eiswüste des schroffen sibirischen Nordens wird von der technischen Gegenwart durchkreuzt. Die Schönheit dieser Landschaft, in der ein Mensch zur Randerscheinung schrumpft, ist eine der Härte. In der Ödnis von Jakutien lebt das alte Ehepaar Sedna und Nanouk. Wie Philemon und Baucis, aber auch dieses kalt gefrorene Idyll wird bedroht, von innen wie außen: von Einsamkeit, der immer früher einsetzenden Schneeschmelze, Stürmen, die die Jurte zu zerreißen drohen, Mangel, Krankheit und seelischem Leid. Die Rentiere, sogar Fische sind selten geworden. Dass der Hirte und Jäger ein vereinzeltes Tier von fern sieht, gleicht beinahe einem Traumbild. Andere Lebewesen, Hasen etwa, verenden an einer mysteriösen Krankheit. Auch Sedna wird vom Schmerz gepeinigt, sichtbar an einem schwarzen Hautfleck, und daran sterben.
Der Film beobachtet die Zwei bei ihren Verrichtungen, wie sie Netze flicken, Holz beschaffen, eine Fellmütze fertigen, sich in den Schlaf singen. Einmal kommt ihr Sohn mit dem Motorschlitten zu Besuch. Er bittet seinen Vater, ihm wie in der Kindheit ein Märchen zu erzählen. Während er zuhört und das Transistorradio eine traurige Melodie spielt, weint Chena eine Träne. Er berichtet von seiner Schwester Aga, die im Zwist die Eltern und die indigene Tradition verlassen hatte und in einer Diamantenmine arbeitet. Nach dem Tod Sednas macht sich Nanouk zu ihr auf den Weg.
Wie der seltsamerweise ungenannt bleibende Robert J. Flaherty, der 1922 das Dokumentarfilmgenre durch »Nanouk, der Eskimo« mitbegründete, begann auch der Bulgare Milko Lazarov im dokumentarischen Genre. Seine Kamera bleibt davon stilistisch geprägt, doch beseelt ihn der Wunsch nach emotionaler Umhüllung, während unser Rezeptionsverhalten diese Form von Verstärkung eher nicht gebraucht hätte. So rauscht Mahlers schwermütiges Adagietto aus der 5. Sinfonie auf, um am Ende das sagenhafte Bild eines riesigen Kraters musikalisch auszumalen, um den herum der Abbau des wertvollen Minerals eine Stadt aus dem Boden wachsen ließ. Ein Märchen aus einer Zeit, die nicht mehr an Märchen glaubt.
»Nanouk«, Regie: Milko Lazarov, D, F, Bulgarien 2018, 96 Min., Start: 18. Oktober 2018