In den 90er Jahren öffneten ständig neue Tanztempel. Auf dem Land trugen sie oft schlicht den Namen der Autobahn, an der sie lagen. Im Ruhrgebiet waren ihre Bezeichnungen glamouröser, brachten mit »Palais«, »Prisma«, »Prater«, »Delta« oder »Art« etwas Glitzern in die strukturwandelnde Region. Ab drei Tanzflächen kann von einer Großraumdiskothek gesprochen werden, bis zu zehn sogenannte »Areas« waren damals keine Seltenheit. In der Hochzeit bevölkerten oft 4000 Vergnügungssuchende eine Diskothek – an einem einzigen Öffnungstag.
Als Ulrich Weber 2014 seine Disco »PM« in Moers schließen musste, verkündete er das Ende der Ära riesiger Tanztempel. Im selben Zusammenhang erklärte der Chefredakteur des Branchenfachblatts Discomagazin Klaus Niester, die Jugendlichen seien viel diversifizierter als früher, ein Musik-Mix aus Pop, House und Schlager funktioniere nicht mehr. Das massenhafte Verschwinden der Großraumdiskotheken lässt sich damit nur unzureichend erklären. Roman Weiler, Geschäftsführer der Disco »Delta« in Essen hat einen genaueren Blick auf das Phänomen: »Zu allererst ist da der demografische Wandel. Großraumdiskotheken haben ein begrenztes Zielpublikum zwischen 18 und 30 Jahre und diese Gruppe wird seit Jahren immer kleiner.« Zudem gebe es einen Zusammenhang mit dem Siegeszug der sozialen Netzwerke.
Zum Start von »Myspace«, »Facebook« und »StudiVZ«, von Event-Portalen wie »Nachtagenten« und »Virtualnights« waren die Portale noch ein regelrechter Motor für Großraumdiscos, die hier kostenlos ihre Zielgruppe erreichten, ihre Etats aus den Printmedien abzogen und in Social-Media-Manager investierten. Heute ist die digitale Kommunikation aber längst ein Problem: Das Disco-Erlebnis, das etwas mit Überraschung zu tun hat, mit Einlassen, was die Nacht bringt, existiert nicht mehr, seit hunderte Smartphones direkt von der Tanzfläche und in Echtzeit Updates über Stimmung, Musik und Besucherfrequenz ins Netz spielen.
Großraumdiskos als Pioniere der Umnutzung
Eher selten wurden Großraumdiskotheken ganz neu aus dem Bo-den gestampft. Vielfach handelte es sich um Umnutzungen. Lange bevor die Internationale Bauausstellung Emscherpark das Potenzial ehemaliger Industriegebäude entdeckte, bevor der Landschaftspark Duisburg entstand, die Ruhrtriennale die Bochumer Jahrhunderthalle bespielte oder die Zeche Zollverein durch PACT, Red-Dot- und Ruhr-Museum zum Kulturzentrum avancierte, waren es Diskotheken, die in die Hinterlassenschaften der Schwerindustrie einzogen. In Moers, Oberhausen, Essen und Dortmund entstanden auf diese Weise riesige Tanzetablissements in ehemaligen Industrieanlagen. In den Innenstädten waren es oft Kinos, die zu groß für das Arthouse-Programm waren, aber zu klein, um mit den Multiplexen konkurrieren zu können. In Dortmund wurde ein ehemaliges Kaufhaus umgenutzt, in Duisburg entstand eine Disco in ausgemusterten Zirkuszelten.
Auch das »Delta« in Essen war eines dieser Umnutzungsprojekte. Mitte der 90er Jahre eröffnete in den ehemaligen Krupp-Werkshallen die Diskothek »Mudia Art«, zunächst mit nur halblegalen Großevents, später dann mit regelmäßigem Betrieb. Ein strenger Dresscode, der Abendgarderobe verlangte, freizügige Animationsshows und der spektakulär inszenierte Verfall der Industriekulisse machten die Disco international bekannt und zur mythenumrankten Legende. 2006 hatte sich das Konzept »Mudia Art« allerdings überlebt. Das Haus wurde in »Delta« umbenannt und für ein jüngeres, weniger zahlungskräftiges Publikum geöffnet. Roman Weiler war dort zunächst DJ, bevor er die Geschäftsführung der Disco übernahm und viele Mitbewerber kommen und gehen sah. Dass sich das »Delta« erfolgreich bis heute behauptet, liegt an der Flexibilität des Geländes, die es ermöglicht, den schrumpfenden Discobetrieb durch externe Veranstaltungen zu kompensieren. Einzelne Hallen können an spezialisierte Veranstalter vermietet werden, Streetfood- und Flohmärkte sind genauso möglich wie Konzerte, Firmen-Events und Open-Air-Veranstaltungen.
Tinder statt Tanzfläche
Neben dem demografischen Wandel hat Roman Weiler weitere Erklärungen für den Niedergang der Großraumdiskotheken und die haben alle mit Smartphones, Apps und der Digitalisierung zu tun. Die Diskothek als zentraler sozialer Raum hat längst ausgedient. Jugendliche und junge Erwachsene flirten lieber über Apps wie »Tinder« als auf der Tanzfläche oder an der Bar. Ein Phänomen, das die schwule Szene bereits vor 15 Jahren schmerzhaft erlebte, als mit der zunehmenden Verbreitung des Portals
»Gayromeo« reihenweise Bars und Discos schließen mussten, weil sich die Kontaktaufnahme ins Internet verlagert hatte. Auch der Musikkonsum hat sich gewandelt. Lang ist es her, dass der DJ eine Instanz war, die neue Songs präsentierte. Früher ging man Woche für Woche in die Disco, um diesen einen neuen Song zu hören, irgendwann den DJ nach Titel und Interpret zu fragen und dann das Lied in einem Plattenshop zu suchen.
Das Soziale hat sich ins Digitale verlagert
Heute gibt es Apps wie »Musicmatch«, die Lied erkennen, noch während es auf der Tanzfläche läuft. Wenige Klicks und es wird auf dem eigenen Handy oder Laptop gestreamt. Eine digitale Jugendkultur braucht die Disco nicht mehr als Raum für Interaktion, Gruppen- und Identitätsbildung. »Sag mir wo du tanzen gehst und ich sage dir, wer du bist« – vorbei. Heute kommt es darauf an, welches soziale Netzwerk auf welchem Endgerät benutzt wird, um sich einer Gruppe zugehörig fühlen zu können.