Was den Schauspieler Burghart Klaußner auszeichnet, bestimmt auch den Schriftsteller Klaußner – eine gewisse Schmallippigkeit. Sein Spiel auf der Bühne oder vor der Kamera setzt selten ein Gramm Fett an – und so ist die Sprache seines Roman-Debüts. Die Tugend der Selbstbeherrschung liegt darin. Auch das Motto, das er dem Buch voranstellt, von Kleist entnommen, liest sich wortkarg: »Sieht er wohl, Herr Wirt?«. Der Satz lässt ahnen: Da war etwas und da kommt noch was. Man erwartet die Auflösung. Offenbar gibt es etwas, das verwundert und staunen macht. Womöglich der gottlose Zufall, dass einer mit dem Leben davonkommt und der andere nicht.
Noch sind Flugzeuge in der Luft. Zeit zu sterben. Zeit zu leben. Geschichten vom Krieg sind Geschichten von Niederlagen. Zu überleben ist das Höchste, alles weitere Legende oder Lüge. Berlin kurz vor Schluss im April 1945. Oder eben: »Vor dem Anfang«. Zwei Männer im Arbeitsdienst: der Gastwirtssohn und Überlebenskünstler Fritz, 36, und Schultz, 42, der eine ausgestattet mit Eigensinn, Mutterwitz und situativer Dreistigkeit – wer handelt, ist in dem Moment ohne Gewissen – , der andere penibel, planvoll und hasenherzig. Sie erhalten Befehl, vom Flieger-Stützpunkt Johannisthal eine Geldkasse mit 750 Mark zum Luftfahrtministerium zu bringen. Sie schnappen sich Fahrräder – und los, müssen sich unterwegs legitimieren, stöbern in einer Laubenkolonie, flüchten sich vor einem Bombenangriff in einen Luftschutzkeller.
Aufgelöst in Konfusion
Die Welt ist in diesen Endtagen eng geworden, Wege sind abgeschnitten; Räume schließen sich, wer Glück hat, hinter einem, wer Pech hat, vor einem; vertraute Orte verschwinden buchstäblich von der Landkarte. Auf der Wilhelmstraße in der Reichs-Mitte löst sich alles in Konfusion auf. Schultz verdünnisiert sich. Fritz will sich zu seinem Segelschiff »Traute« durchschlagen, wird aber am Wannsee fix drei Hundertschaften Soldaten zugeteilt. Sie sollen sich der Roten Armee entgegenstellen. Fritz ist nun beinahe allen Hoffens bar. Das Schicksal greift nach ihm, der Tod kommt ihm verdammt nahe, während der Autor als Reminiszenz Fritz’ Familiengeschichte aufblättert.
Ein bisschen Schwejk und die Komik des Schelmenromans, die die Gefahr nicht bannt, aber aushaltbar macht, schwingen mit. Angesichts scheinbarer literarischer Kunstlosigkeit denkt man an Wolfgang Koeppen oder an Siegfried Lenz, einen Wahl-Hamburger wie Klaußner. Der Ton – ebenso mann- und kommisshaft wie salopp zivil – trifft die Zeit. Aber für einige Abschnitte wechselt die sparsam gesetzte, prunklose Prosa die Farbe. Die Ruine des Schillertheaters eröffnet sich Fritz wie zum Bühnenbild. Traumgesichte suchen ihn heim. Die Reflexion über das Wesen eines Schauspielers unter der Diktatur und dessen Fähigkeit, »das Leben durch unendliche Verdopplungen zu erweitern«, zeigt das intensive Interesse Klaußners an seiner Künstler-Bruderschaft. Die Erinnerung an einen früheren Gewittersturm auf See, der für Fritz »die Richtschnur aus Angst« legt, wird zum Gleichnis für den Untergang von Nazi-Deutschland – und für Errettung.
Burghart Klaußner, »Vor dem Anfang«, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 173 Seiten, 18 Euro
Lesungen am 19. September im Düsseldorfer Schauspielhaus; am 22. September im Kleinen Haus/Münster und am 24. September in der Kulturkirche/Köln.