REZENSION ANDREAS WILINK
Die Seele, sagen sie, befände sich im Blut, insofern gehöre es Gott allein. Der Mensch dürfe Blut nicht antasten, reinigen, austauschen, auffrischen. Und sei es sein Tod. Besser, du verlierst das irdische Sein, als das ewige Heil. Blut sei keine biologische Substanz, sondern Symbol. So argumentieren die Eltern des 17-jährigen Adam (Fionn Whitehead), unterstützt von ihren Glaubensbrüdern der Zeugen Jehova. Schwer an Leukämie erkrankt, braucht Adam die Bluttransfusion; doch auch er, kurz vor seinem 18. Geburtstag, lehnt mit Verweis auf die Bibel ärztliche Hilfe ab. Der Fall wird vor dem Familiengericht in London verhandelt. Vorsitzende ist Fiona Maye, hoch angesehen, souverän, effizient, präzise, kultiviert, brillant in ihrem Beruf, weniger perfekt im Privatleben.
Die Ehe mit Jack (Stanley Tucci) kriselt, als er ihr eine Affäre gesteht, weil er spüre, für sie nicht mehr als Mann und Partner vorhanden zu sein. Jack zieht aus. Maye lässt der Fall nicht los. Sie tut etwas sehr Ungewöhnliches: Sie setzt einen Ortstermin an. Am Krankenbett von Adam will sie sich überzeugen, dass er im vollen Bewusstsein der Konsequenzen seine Entscheidung vertritt. Das Gespräch wird zur intimen Zwiesprache. Richterin Maye fällt das Urteil: Adams »Leben ist wichtiger als seine Würde«.
Dass Adam den Namen des ersten Menschen trägt, ist kein Zufall. Es ist, als sähen wir vor uns die Erschaffung Adams auf Michelangelos Deckengemälde in der Sixtina. Richterin Maye tritt an Gottes Stelle und bestimmt über Leben und Tod. Ein Eingriff, der eine Verbindung stiftet und Verantwortung bedeutet. Adam gesundet – und wird zum Stalker, verfolgt seine Retterin, will mit ihr und bei ihr sein. Maye hat zwar ein zärtliches Gefühl für ihn, aber verbietet sich den Kontakt als nicht professionelles Verhalten. Sie wiegelt ab – mit fataler Folge.
Richard Eyre setzt Ian McEwans Roman subtil und eindringlich um, begleitet von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier. Emma Thompson, die einen manchmal ganz schön nerven konnte mit ihrem britischen Etepetete, strahlt hier beeindruckend Güte und Größe aus, zeigt moralische Tiefe, Dignität, Empathie und Bestürzung, die ihr Innerstes trifft. »Kindeswohl« ist nach »Am Strand« innerhalb kürzester Zeit die zweite nahezu ideale Literatur-Adaption eines Buches von McEwan, der einiges weiß über den Liebeswahn.
»Kindeswohl«, Regie: Richard Eyre, GB 2017, 105 Min., seit 30. August 2018