Man kann sich leicht vorstellen, wie sie so dasitzt und eigentlich arbeiten muss. Das Schreibtischlicht schaut skeptisch zu ihr herüber. Genauso wie die Stehlampe daneben, der sie mit Tusche winzig kleine Augen gezeichnet hat. »Meine Arbeitskollegen hier im Zimmer«, hat Melanie Garanin in ihren Blog geschrieben und dazu zwei ihrer Zeichnungen online gestellt. Wenig später trudeln die ersten Kommentare ein: »Hoffentlich haben die beiden nichts an der Birne«, schreibt eine Leserin. Und dann eine Bloggerin, die sich Swig nennt: »Diese Glückspilze! Sie haben Schalter: morgens an, abends aus …« Welche Mutter würde sich so etwas nicht manchmal für ihre Kinder wünschen? Kleine Lieblinge, die auf Knopfdruck einschlafen oder hübsch lächeln wie diese beiden »Kollegen«?
»Online-Clans« als Hilfe
Aus Sicht von Susanne Mierau ersetzen Elternblogs ganze Familien, zumindest im übertragenen Sinn: »Betrachtet man die Menschheitsgeschichte, wird klar, dass Menschen stets in Gruppen zusammen lebten, die zur gegenseitigen Unterstützung dienten«, sagt die Berliner Pädagogin und Bloggerin (www.geborgen-wachsen.de) in einem Vortrag, den sie vor einiger Zeit auf der re:publica-Konferenz für Web2.0-Themen in Berlin gehalten hat. Ihre These: Der »Clan«, in dem die Menschheit einst ganz selbstverständlich lebte, ist für viele Familien heute nicht mehr existent. Großeltern oder Geschwister sind in die Ferne gerückt, durch erzwungene oder selbstauferlegte Job- und Ortswechsel. An ihre Stellen rücken laut Mierau nun »Online-Clans«, die sich gegenseitig von ihren Erfahrungen und Sorgen berichten.
Was tun, wenn das Baby Fieber hat? Die virtuelle Elterngemeinschaft antwortet meist schnell und bietet zugleich nicht eine, sondern gern auch mehrere Lösungen an: vom Hausmittel bis zur Schulmedizin, vom Wadenwickel bis zum Fieberzäpfchen. »Schwarmintelligenz« nennt man das auch, die sich theoretisch rund um die Uhr nutzen lässt. Denn irgendwer ist in der Online-Familie immer gerade wach oder selbst betroffen. Für ihren Vortrag hat Mierau 34 Blogs ausgewertet, die auf der Internetseite von »Brigitte Mom« empfohlen werden. Die meisten drehen sich um »den Wahnsinn des Alltags«, gefolgt von Festen, Urlauben und Ernährungs-Tipps. Zudem werden Modetrends in sozialen Netzwerken verhandelt, Bastelanleitungen und Kochrezepte in Facebook-Gruppen gepostet, Freizeit-Tipps auf Fotoplattformen wie Pinterest oder Instagram illustriert (eine Auswahl der besten Elternblogs der Westkind-Redaktion gibt’s übrigens hier).
Jeden Tag eine Zeichnung
Am unteren Rand von Melanie Garanins Internetseite gibt es eine Leiste, in der das meistgeklickte Schlagwort am größten angezeigt ist. Ungewöhnlich für einen Eltern-Blog, denn es heißt schlicht »Skizzenbuch«. »Meine Internetseite ist so etwas wie eine Disziplinarmaßnahme«, sagt die Kinderbuch-Illustratorin. Denn einmal am Tag (außer am Wochenende) zwingt sie sich selbst, eine Zeichnung ins Netz zu stellen. »Bloggen ist für mich ein bisschen wie die Arbeit in einem Gemeinschaftsatelier. Man kann anderen über die Schulter gucken, sich inspirieren lassen, Dinge zeigen, an Projekten teilnehmen.« Die Menschen, die ihre Seite besuchen, spornen sie an. Und erfahren in selbstironischen, auch nachdenklichen Kommentaren nebenbei einiges aus ihrem Leben mit ihrem Mann und den vier Kindern, mit Hunden, Pferden, Hühnern und Meerschweinen in einer Kleinstadt bei Berlin.
Garanin bloggt seit November 2009. Im Sommer 2015 nimmt ihr Leben, und auch ihr Blog, eine drastische Wendung. Ihr jüngster Sohn Nils erkrankt an Leukämie und stirbt innerhalb weniger Monate. Ein unfassbarer Verlust. Wie geht man damit um in einem Blog, der eigentlich als tägliche heitere Fingerübung für eine Zeichnerin entstanden war? Unter anderem, in dem sie eines Tages Kugelfische, Pferde und Affen die Seite bevölkern lässt. Anlässlich einer mit einem Freund selbstorganisierten Ausstellung entstehen 159 Tiere mit Kerzen, für jeden Tag ohne Nils eine. Zum »Worldwide Candle Lightning«-Tag, dem jährlichen Gedenktag für verstorbene Kinder, schickt sie die Kerzentiere in die Welt und zeichnet hoffnungs- und liebevoll gegen die Trauer an. Ein typischer Eltern-Blog? Nicht ganz. Aber einer, der beispielhaft verschiedene Herangehensweisen zeigt und vielleicht eher der Blog einer Künstlerin mit Kindern ist, denn einer Mutter, die hauptsächlich ihre Familie zum Thema macht.
Kuckuckskinder, Familie, Studium und Beruf
Fest steht: Die Vielfalt ist groß. Neben Eltern-Blogs voller Erfahrungsberichte gibt es solche von Experten, die ihr Wissen hinaus senden (www.hebammenblog.de) oder die es journalistisch aufarbeiten (www.healthandthecity.de). Zudem Blogs von und mit Kuckuckskindern, über den Alltag mit Autisten, mit Buchtipps für Eltern und Kinder oder über die Vereinbarkeit von Familie, Studium oder Beruf. Aber was macht eigentlich einen guten Eltern-Blog aus? »Das Wichtigste ist, dass er authentisch ist«, sagt Susanne Hausdorf, die unter www.ichlebejetzt.com aus ihrer Familie berichtet. Hier hat sie einen Button angebracht, der zum »Blogger Relations Kodex« führt. Eine Art Absichtserklärung, nach der Kooperationen mit Unternehmen dem Leser offengelegt werden. Auch Anne-Luise Kitzerow-Manthey findet solche freiwilligen Selbstverpflichtungen wichtig. »In der Szene wird heftig über das Thema Werbung und Transparenz diskutiert.«
»Plattform für Produkttests«
Eines der bekanntesten Eltern-Blogs ist www.hauptstadtmutti.de und zugleich einer, in dem sehr offensiv geworben wird. Täglich würden bis zu 2000 Leser die Seite besuchen, heißt es hier, 95 Prozent davon seien Mütter. Die Seite eigne sich daher hervorragend als »Plattform für Produkttests, Produktvorstellungen und Verlosungen«, schreiben die »Hauptstadtmuttis«, die Berliner Verlags- und Werbefachfrauen Isa Grütering und Claudia Kahnt. »Wir und unsere Kinder tragen und präsentieren Ihre neuesten Mode-Kreationen, Taschen und Accessoires. Wir baden uns in Ihren Ölen und Düften. Schicken Sie uns in Wellness- oder Familienhotels, lassen Sie uns Autos oder Kinderwagen testen.« Nach kritischem Journalismus klingt das nicht, das ist wohl auch nicht der Anspruch. Die meisten Eltern-Blogger halten es eher wie Nicole Lehmann, die auf ihrer Seite MamainEssen.de nur die Produkte empfiehlt, die ihr »persönlich wirklich gut« gefallen. Geld verdienen könne sie mit ihrem Ruhrgebietsblog nicht. »50 Euro und ein paar Spielzeuge fürs Kind sind das, was ich bisher eingenommen habe.« Melanie Garanin vertreibt ab und zu ihre Zeichnungen, Drucke und einen Kalender und hat auch schon Aufträge von Buchverlagen über ihre Seite bekommen. Aber wieviel (Eigen-)Werbung verträgt ein Blog? »Die Branche reguliert sich selbst«, sagt Anne-Luise Kitzerow-Manthey. »Wir sagen dazu auch: Der Content ist und bleibt der King.« Denn am Ende vertrauten Leser »ihren« Familien-Bloggern mehr als (Anzeigen-getriebenen) Zeitschriften; genau das wollen die meisten nicht aufs Spiel setzen. Und sorgen selbst für ein Maß zwischen Sinnsuche und Selbstmarketing.