REZENSION ANDREAS WILINK
Seinen ersten Spielfilm ein Kammerspiel zu nennen, würde „Lebanon“ nicht gerecht. Es klingt zu heimelig. Schauplatz ist ein Panzer, den der israelische Regisseur Samuel Maoz und die Insassen nicht verlassen. Der stählerne Riese rollt durch die Trümmerlandschaft des Nachbarlandes von Israel im Kriegsjahr 2006. Das Feuer speiende, Tod bringende Ungetüm kann selbst auch zum Sarg werden. Der Blick nach außen ist verstellt, verengt. Der Panzer als Panicroom.
„Foxtrot“, der neue Film von Maoz, weitet auf den ersten Blick seinen Radius aus: Tel Aviv, die vibrierende Großstadt, die junge Mittelmeer-Metropole des modernen Staates. Sie liegt hinter den Panoramascheiben des luxuriösen Apartments wie unter Qurantäne. Oder ist die Wohnung die Isolierstation? Ein Ehepaar, der Architekt Michael (Lior Ashkenazi) und seine Frau Dafna (Sarah Adler), wird über den Tod des Sohnes während dessen Militärdienstes informiert. Die Kamera lässt sie nicht allein mit ihrem Schmerz und in ihrer Krisensituation.
Dann, eine Weile später, geht sie dorthin, wo Jonathan Feldmann (Yonatan Shiray) stationiert war: einem Sicherheitsposten in der Wüste, einem mählich im Schlamm versinkenden Container im Nichts für vier Grenzwächter, die sich die Arbeit teilen, kontrollieren, sich langweilen, Comics zeichnen, die Waffe in Schuss halten. Kulisse für ein Beckett-Endspiel. Absurdes Theater der Politik.
Der Film schaut auf Dinge, die selbst Geschichten erzählen, man muss sie nur zu entschlüsseln wissen. Ein Bild ist einfach: zusammengeschossene tote Palästinenser, die in ihrem Auto in einer Grube ‚entsorgt’ werden. Ein anderes ist schwerer zu dechiffrieren: die alte Ausgabe eines Playboy-Magazins, das Jonathan liest, und dessen Nummer schon sein Vater besaß, nachdem er es gegen eine Thorarolle getauscht hatte. Lust und Jugend kennen keine Pietät. Die heilige Schrift stammte aus einem Vernichtungslager der Nazis. Das neue Israel will auch einmal seine Vergangenheit zu Gunsten einer Gegenwart, die es fast nicht gegeben hätte, vergessen können.
Zurück zum Alltag in der Wüste: Papiere überprüfen, durchwinken. Der Nächste, bitte. Ab und an stelzt ein Dromedar vorbei. Aber einmal geht etwas daneben. Das Maschinengewehr schießt… Fast eine Charade, wäre es nicht ernst.
Wenn es an der Tür schellt und dort drei Uniformierte stehen, braucht es keine Worte: Frau Feldmann, die Mutter, kennt die Nachricht, die ihr übermittelt werden muss. Sie fällt in Ohnmacht, Herr Feldmann schreit nach innen und versucht sich vom Schmerz durch selbst zugefügten brennenden Schmerz zu betäuben, bis der Handrücken Blasen wirft. Man verabreicht ihm Beruhigungsmittel gegen etwas, das das Leben für immer aus der Bahn wirft. Und auch gegen etwas, das sich nun dem Vergessen neuerlich widersetzt und das ihm, dem Veteranen eines früheren Krieges, wieder bewusst wird. Schuld vererbt sich auch – anders. Der Rabbiner, hilflos und überfordert, kommt vorbei, um die Trauerfeier durchzusprechen. Auch der Tod hat seine Routinen. Auch seine Irrtümer. Wieder schellt es an der Tür. Doch auch frohe Botschaft kann grausame Folgen haben.
Wie schon „Lebanon“ ist auch „Foxtrot“, der auf dem Festival von Venedig den Großen Preis der Jury erhalten hat, ein Gleichnis. Ist ein Tanz, der im Karré auf der Stelle tritt, der nicht vom Fleck kommt, der keinen Schritt vorwärts macht, und wenn, dann wäre die Bewegung falsch. Er nimmt die Figuren in seine Arme, wirbelt sie herum, bis sie die Sinne, das Gleichgewicht, die Orientierung verlieren. Er erzählt vom Sterben und wie, um Gottes willen, Menschen damit fertig werden sollen. Ein Film wie das Buch von David Grossman, der in „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ auch eine – die eigene – Geschichte von Eltern und Kind erzählt.
„Foxtrot“, dessen visuelle Erzählkunst nicht minder Ruhm verdient wie seine Begabung, ein Ehedrama zu entwickeln, ist ein einsam ragendes Mahnmal. Traurig, bitter, zornig, ratlos angesichts des Schicksals, das sich maskiert als Groteske. Wie richtig Handeln im falschen Leben? Manchmal aber auch ist „Foxtrot“ von einer Schönheit, wenn zu Mahlers allzu berühmtem Adagietto die Sonne versinkt, die einen verzweifeln lässt.