REZENSION ANDREAS WILINK
Dieser Walzer ist besetzt. Jeder Regisseur weiß und jeder einigermaßen mit der Kinogeschichte vertraute Zuschauer ebenfalls, wo Johann Strauss’ »An der schönen blauen Donau« Verwendung fand. In Kubricks Odyssee »2001« gleiten Raumschiffe im Dreivierteltakt durchs All, während bei Thoms Stuber der Raum schrumpft auf das Format eines Großmarkts und seine Betriebsfahrzeuge entlang von Regalreihen und Paletten kurven. Das Blinklicht des Gabelstaplers ersetzt das Leuchten der Sterne – auch sonst in dieser Einkaufs-Brache eines Industriegebiets an der nordsächsischen Autobahn. Wenn die Nachtschicht beginnt, legt jemand Bachs Air in den CD-Player. Kontrastmittel, die der Film häufig einsetzt: Gefühle, die sich musikalisch maskieren und die Mechanik der Handgriffe und der Routinen für die Arbeits-Menschen mit ihren halb oder ganz versteckten Schicksalen momentweise außer Kraft setzen.
Christian beginnt als Azubi, bekommt Kittel, Kulis, Namensschild und Einweisungen in seine Aufgaben und die eigene Logik des Sortiments. Man teilt ihm dem Kollegen Bruno (Peter Kurth) in der Abteilung Getränke zu. Christian kann zupacken. Er spricht wenig, tut sich schwer mit dem Manövrieren des Staplers. Wenn er mit dem leeren Bus nach Feierabend heimfährt, macht sein Zuhause im Wohnblock keinen Unterschied zum Arbeitsplatz. Acht Stunden sind für ihn der ganze Tag. Nicht einmal das Wort Tristesse mag man benutzen, weil seine Bedeutung zu schwer, sein Klang zu artifiziell wäre für den Zustand, den er »In den Gängen« beschreiben müsste und in den nur das herzliche, meistens wortkarge Miteinander der Kollegen bei Bier, Schwoof und doofen Reden etwas Wärme bringt.
Das Unglück ist eine verblichene Farbe, wie die verstaubten Topfpflanzen im Firmenflur, falls die nicht überhaupt aus Plastik sind. Wie die Fototapete eines Palmenstrandes im Pausenraum mit dem Kaffeeautomaten (auf der Tonspur rauscht das Meer), wo Christian das erste Mal mit Marion, zuständig für Süßwaren, spricht, richtiger: sie mit ihm, den sie etwas provozierend »Frischling« nennt. Sandra Hüller spielt sie mit leicht amüsiertem Interesse, unter das sie sich gewissermaßen offensiv duckt. Beide, Marion und der behutsame, scheue Christian – Hüller und Franz Rogowski – stellen für einige solcher Augenblicke eine Intimität her, die an die in Käutners »Unter den Brücken« erinnert. Eine Romanze in Prosa, erzählt von Clemens Meyer.
Einmal will er sie besuchen in ihrem komfortablen Eigenheim, wo sie in unglücklicher Ehe lebt, schleicht sich rein, findet in einem Zimmer ein fast fertiges Puzzle mit einem ähnlichen Palmenstrand, fügt ein Eckchen zum Bild, hört sie im Badezimmer singen, legt ein Sträußchen Blumen ab, verschwindet. Man spürt eine unstillbare Sehnsucht wie in manch einem der frühen Fassbinder-Filme, die stets auch Totengesänge waren. Es will einem das Herz zerreißen. Alles ist halb so schlimm und doch kaum auszuhalten. Für Christian wird es einfach weitergehen in Nachfolge von Büchners / Lenz’ »So lebte er hin«. Wo soll man Schönheit, wo ein Glück, wo den Mut zu leben hernehmen!
»In den Gängen«, Regie: Thomas Stuber, Drehbuch: Stuber und Clemens Meyer, D 2018, 125 Min, Start: 24. Mai 2018