»Die See bei Nacht ist das Dunkelste, was einem begegnen kann.« Waclaw Groszak, ein Ölbohrarbeiter auf einer Plattform vor der Atlantikküste Nordafrikas, entkommt diesem Dunkel zwar. Aber Mátyás, sein Freund, wird vom Sturm fortgerissen und verschwindet spurlos im tosenden Meer. Fortan trägt Waclaw die Finsternis jener Nacht in sich ganz so wie die Kugelfische, »in deren Körpern ein Gift produziert wird, ein Bereich in ihrem Innern, schwarz vom Alleinsein«.
Dieser undurchdringlichen Schwärze spürt »Wie die Wasser steigen« nach. Die Handlung von Anja Kampmanns erstem Roman ist schnell erzählt. Nach Mátyás’ Tod verliert Waclaw jeden Halt. Nach einem Besuch bei der Schwester seines Freundes in der ungarischen Provinz lässt er sich durch Nordafrika und Europa treiben. Gegenwart und Vergangenheit mischen sich. In die schon lyrisch zu nennenden Beobachtungen, mit denen Kampmann das Wesen von Städten und Landschaften umreißt, fließen Erinnerungen an Waclaws Kindheit in Bottrop, an die Jahre mit seiner ersten großen Liebe Milena in Polen und an die Zeit mit Mátyás ein. Aber nichts kann die Schwärze und das Gift der Einsamkeit durchdringen.
Der Sohn eines Polen, der als Bergarbeiter ins Ruhrgebiet kam, bleibt bis zum Ende ein Rätsel. Nicht einmal, wie weit die Freundschaft zwischen Waclaw und dem deutlich jüngeren Ungarn ging, lässt sich mit Sicherheit sagen. Aber Liebe dürfte jedenfalls im Spiel gewesen sein. Kampmanns Prosa, die zum einen präzise Bilder von Orten und Menschen zeichnet und andererseits irritierend schemenhaft bleibt, gleicht den kleinen Bildschirmen, über die die Bilder von Überwachungskameras flimmern. Auch für sie gilt, was Waclaw für sich und sein Leben realisiert, »dass alles unscharf war, seine Welt, die zu den Seiten hin abriss«. Dieses Spiel mit der Unschärfe verleiht dem Romandebüt der Lyrikerin etwas Widerständiges. Der Leser kann sich nicht in Kampmanns geschliffene Sprache fallen lassen. Es ist eher ein langes und langsames Ringen. Man muss den Sätzen entlocken, was sie verbergen. Dann entsteht ein dunkles und zugleich hellsichtiges Bild einer Ordnung, die die Menschen Generation um Generation ihrer Wurzeln beraubt.
Anja Kampmann: »Wie hoch die Wasser steigen«, Carl Hanser Verlag, München, 2018, Roman, 352 Seiten, 23 Euro
Lesungen am 16. Mai bei Müller & Böhm, Literaturbuchhandlung im Heine Haus Düsseldorf, 17. Mai bei Proust WÖRTER + Töne, Essen, 18. Mai im Loch, Wuppertal (Literatur Biennale), 21. Juni im Literaturhaus Dortmund