Zwölf Monate lang als Jurymitglied der Mülheimer »Stücke« kreuz und quer durch den deutschsprachigen Theaterraum zu reisen, bedeutet eine absolute persönliche Win-Win-Situation. Weil die Gegenwartsdramatik ja nicht nur in Großstädten wie Berlin oder Köln gepflegt wird, sondern von Esslingen bis Sankt Pölten allüberall als kultureller Bestseller gilt, gehört es zum Jobprofil, bis in die lauschigsten ICE-entkoppelten Regionen vorzudringen und nebenbei – Gewinn Nummer eins – endlich mal wieder die landeskundlichen Grundschulkenntnisse aufzufrischen.
Zum zweiten befindet man sich in der glücklichen Lage, die seit Jahren über neue Stücke kolportierte (Fern-)Diagnose, die der große Theater-Entertainer Claus Peymann einst in die goldenen Worte goss, junge Autoren interessierten sich nur für Probleme »mit ihrer Großmutter oder dem Papi oder ihrem Pimmel«, selbst hautnah überprüfen zu können. Stimmt es, dass Dramatiker/innen sich in reine Privatismen flüchten? Gibt es von Esslingen bis Sankt Pölten tatsächlich nichts als auktoriale Bauchnabel-Tragödien zu begutachten? Oder hängen die neuen Stücke vielmehr – ganz im Gegenteil – völlig nahtlos an diesem viel beschworenen Puls der Zeit, der da vom (Fach-)Publikum ständig eingefordert wird?
Sagen wir mal so, sofern man das Urteil, wo dieser Puls eigentlich ganz genau schlägt, nicht unbedingt allein Claus Peymann überlässt, gibt es keinen Grund zur Relevanz-Mangel-Klage. Und daran, dass das Theaterblut so vital zirkuliert, haben übrigens selbst im gegenwartsdramatischen Bereich die gestandenen Altmeister großen Anteil.
Wenn man nämlich tatsächlich das Sakrileg begehen und einen Trend ausrufen wollte, dann wäre es in diesem Jahr mit Sicherheit der zur so genannten Kanon-Überschreibung. Soll heißen: Kluge Dramatiker/innen schauen – in der acht Stücke umfassenden aktuellen Mülheim-Auswahl betrifft das allein drei Arbeiten – durch die Gegenwartsbrille noch einmal auf handverlesene Klassiker von Molière bis Strindberg und verpflanzen deren Motive, Konfliktlagen und Zankäpfel ins 21. Jahrhundert. Wobei es – das ist für die Jury-Auswahl Bedingung – nicht um eine hier und da ein wenig sprachlich aufpolierte Aktualisierung gehen darf, sondern tatsächlich ein komplett eigenständiger, neuer Text entstanden sein muss.
So wie bei Ewald Palmetshofer, der aus dem schlesischen Bauernumfeld, das sich anno 1889 durch Gerhart Hauptmanns Sozialdrama »Vor Sonnenaufgang« parlierte und trank, ein punktgenau gegenwärtiges Mittelstandsporträt macht. Mit bis hin zu Elitenbashing- und Populismusdebatten derart tagesaktuellen Zügen, dass gleich zwei Champions-League-Bühnen, das Theater Basel (mit Nora Schlocker) und das Wiener Akademietheater (mit Dušan David Pařízek), zu überdurchschnittlich brillanten Inszenierungen inspiriert wurden – unter denen sich die Jury letztlich für die Schweizer Uraufführung entschied.
Zusammen haben beide Häuser auch eine Koproduktion – hier passt die Vokabel wirklich – gestemmt, deren Regisseur und Autor in puncto Kanon-Überschreibung bereits als eingefleischter Wiederholungstäter gelten darf. Simon Stone, der schon Tschechows großstadtsehnsüchtige »Drei Schwestern« oder Ibsens abgehalfterten Banker »John Gabriel Borkman« überzeugend auf Gegenwartsfitness und US-amerikanische Qualitätsserientauglichkeit getrimmt hatte, versammelt jetzt im Wienerisch-Basler »Hotel Strindberg« auf Motiv-Basis des schwedischen Paarhöllendramatikers das geballte Beziehungsunglück des 21. Jahrhunderts. Und weil die genial verwobenen Beziehungstragikomödien simultan ablaufen in der mehrstöckigen, vollverglasten Bettenburg, die Bühnenbildnerin Alice Babidge aufs Szenario gebaut hat, hängt der Serienjunkie vorm »Hotel Strindberg« genauso Bingewatching-suchtgefährdet fest wie vor seinem Lieblings-Netflix-Stoff.
Leider ist diese Qualität gleichzeitig auch die Krux des Abends, jedenfalls was seine Reisetauglichkeit betrifft: Da das Bühnenbild unadaptierbar ist, kann »Hotel Strindberg« in Mülheim aus technischen Gründen nicht gezeigt werden. Wer aber auf jeden Fall kommt, und zwar – sehr zu Recht – bereits zum wiederholten Mal, ist die Ironie- und Pointen-Spezialistin Rebekka Kricheldorf. Deren Kulturbloggerin »Fräulein Agnes«, die in einem grandiosen Auftaktmonolog sämtliche Berufs-, Bevölkerungs- und Lebenseinstellungsgruppierungen dieses Universums erst mal messerscharf als armselige Selbstbetrüger entlarvt, darf man sich als scharfzüngigste Wiedergängerin von Molières »Menschenfeind« vorstellen, der schon vor dreieinhalb Jahrhunderten überall nur Frömmler, Phrasendrescher und Doppelmoralisten erblickte.
Genau wie Molières Alceste wirft Fräulein Agnes in Erich Sidlers kongenialer Inszenierung vom Deutschen Theater Göttingen unter ihrem feschen Misanthropie-Mäntelchen die philosophische Frage auf, ob es sich bei der sprichwörtlichen Lebenslüge tatsächlich nur um eine Krücke für mediokre Mitläufer/innen handelt oder, andersherum, nicht vielleicht sogar eine Art Grundrecht auf erbaulichen Selbstbetrug existiert; zumindest in homöopathischen Dosen.
Ganz abgesehen von solchen ethischen Überbauten entwickelte »Fräulein Agnes« in ihrer erfrischend sarkastischen Menschen- und Weltfeindlichkeit mitunter auch ganz konkretes Identifikationspotenzial unter den Juror/innen. Zum Beispiel, wenn selbige – das Mülheim-Gremium bewies dieses Jahr ein untadeliges Reiseplanungshändchen und ließ von »Herwart« bis »Friederike« wirklich keine fernverkehrslahmlegende Sturmkatastrophe aus – mal wieder an irgendeinem Bahnhof in die transporttechnische Röhre guckten.
Allen Grund zur Misanthropie hätte auch, und zwar rund um die Uhr und völlig unabhängig von Fahrplanentgleisungen, der Gymnasiallehrer Ronald Rupp, dem in Thomas Melles Stück »Versetzung« (Deutsches Theater Berlin) eine über zehn Jahre zurückliegende psychische Erkrankung zum Verhängnis wird, als er zum Schuldirektor aufsteigen soll. Soziale Ausgrenzungsmechanismen werden in Bit Bartkowiaks Inszenierung ebenso offengelegt wie die wahrnehmungstechnische Unschärferelation zwischen Wahrheit und Fiktion: Eine Borderline, mit der – auf ganz anderer Ebene – zurzeit wohl kaum jemand so öffentlichkeitswirksame Probleme hat wie der Fake-News-König Donald Trump.
Womit wir bei jenen Texten der Mülheim-Auswahl wären, die sich, um zum Ausgangspunkt zurückzukommen, ganz direkt am Welthaltigkeitspuls der merkwürdigen Zeit verorten. Elfriede Jelinek hat mit ihrer jüngsten Textflächenwanderstrecke »Am Königsweg« – großartig unterhaltsam und gleichzeitig klug inszeniert von Falk Richter am Hamburger Schauspielhaus – den amtierenden US-amerikanischen Präsidenten mit monarchischen Allüren im Allgemeinen, dem antiken »König Ödipus« im Besonderen und, wie es so ihre luzide Art ist, praktisch der ganzen Welt kurzgeschlossen.
Ähnlich verwebt Thomas Köck im letzten Teil seiner Klimatrilogie »abendland. ein abgesang«, der in der Regie von Marie Bues aus Mannheim kommt, globale (Eiswüsten-)Katastrophen mit singulären menschlichen (Selbstverbrennungs-)Schicksalen. Und auch Maria Milisavljevics dystopisches »Beben«, das Erich Sidler am Heidelberger Theater inszeniert hat, erschüttert umfassend die komplette (Wohlstands-)Welt.
Was aber wäre die hochklassige (Mülheimer) Dramatik am Puls der Zeit ohne veritablen Pulsbeschleuniger? Der Dramatiker Ibrahim Amir – wie Milisavljevic, Köck und Stone diesjähriger Mülheim-Debütant – hat mit dem Ensemble des Staatsschauspiels Dresden (Regie: Laura Linnenbaum) in der großartig entkrampfenden Integrationsfarce »Homohalal« schon mal ein bisschen vorausgeschaut. Wie sieht es wohl aus, wenn 2037, in zwanzig Jahren, die heute angekommenen Immigranten als tadellose Integrationswunder mit ihren biodeutschen Freunden anlässlich einer Beerdigung aufeinandertreffen? Auf jeden Fall, so viel sei gesagt, hochnotkomisch. Und unbedingt zukunftsweisend!
12. Mai bis 2. Juni