Der Graf ist ein übertünchter Greis, beinahe bereits als junger Mann, und später, durch Kontakt mit einer Hetaera Esmeralda, die auch dem »Doktor Faustus« Leverkühn die syphilitische Ansteckung liebkosend bereitet, schon gar. So sehen wir Eduard von Keyserling im Porträt des Lovis Corinth, das in Münchens Neuer Pinakothek hängt und dem Buch Klaus Modicks vorangeht. Ein Herr von imponierender Hässlichkeit, zart, schmal und ausgezehrt, akkurat frisiert, mit ungesund roten Lippen und vorquellenden blauen Augen. »Noble Edelfäule« attestiert ihm der Malerfreund. Ein Elégant im Verfall, ein Aristokrat auf den Abwegen der Bohème, äußerlich korrekt, innerlich lax. Der baltische Adelsspross, der das heimatliche Schloss Tels-Paddern nach der Skandal und Schande auslösenden Affäre mit der verheirateten Ada von Cray verließ, vor den Konventionen floh und in Wien und München Quartier bezog, begegnet uns in der romanhaften Lebensausschnitts-Geschichte wie jemand seines eigenen literarischen Personals.
Es ist die Zeit um 1900, in den Buchhandlungen liegen Nietzsche, Freud, Bang und George, Oscar Wildes »Dorian Gray«, Fontanes »Effi Briest«, die Keyserlings Dichter-Wesen berührt. Wedekind macht Furore; Thomas Manns Novelle »Der kleine Herr Friedemann« lässt einen Sonderling an Eros zu Grunde gehen. Auf dieser Bühne, die Modick mit Bedacht aufzieht und einigen ironischen Lichtern schmückt, gastiert Keyserling mit Talent zur Vollkommenheit in der Rolle des halbtragischen Helden: einer, der wie Schnitzlers Mannsvolk ein Faible für die süßen Mädel hat, die auch Vroni oder Sintija heißen können.
Der in Schwabinger Cafés den Tag versäumt, während den Haushalt zwei seiner Schwestern führen; der in die Sommerfrische an den Sternberger See reist zu Max Halbe und weiteren Künstlern, Literaten und Schlawinern nebst Damen und sich an den Kartentisch setzt für ein Jeu; der Erinnerungen an Kurland aufruft, als sensitiver Beobachter Menschen und Natur-Impressionen in sich sammelt, die in seine vom Vergehen wissenden Erzählungen fließen. Wehmut durchzieht Keyserlings Bücher, die die mürbe, brüchige baltische Welt schildern, und auch Modicks fein gestimmte Annäherung. Wehmut darüber, dass es »Korrekturbogen des Lebens« nicht gibt. Es ist, als stünde Keyserling mit der Auflösung in geheimem Einverständnis, als seien das Licht über der See, das Zittern der Luft, der Duft der Wälder Boten eines Schmerzes, der nun längst nicht mehr so weh tut.
Klaus Modick: »Keyserlings Geheimnis«, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2018, Roman, 240 Seiten, 20 Euro
Lesungen am 17.4.2018 in der Stadtbücherei Münster, am 18.4.2018 im Literaturhaus Köln, am 19.4. in der Altstadt-Buchhandlung Rabanus, Ratingen und am 26.4.2018 im Schloss Morsbroich, Leverkusen.