Gibt es einen Ort für diesen irrsinnig hellsichtigen Menschen? Ist Caligula, die Denkmaschine in einem Ideen-Experiment, der Verführer zum Nichts auf den Gipfeln der Verzweiflung, der den Toten Verschworene, dingfest zu machen? Im Düsseldorfer Schauspiel-Central reihen sich auf Barbara Steiners Bühne Jahrmarktsbuden mit marktschreierischen Farben für billig antik gewandete Figuren und Scherzkekse im flachen Dialog-Sprech. Sie könnten in einem italienischen Fernsehstudio stehen: Toll trieben es die alten Römer.
Was kann uns der 80 Jahre alte Künstler-Kaiser sagen? Heutzutage, wo wir seit dem Vorabend einer Wirklichkeit des Totalitären und Massenmordens (Camus schrieb »Caligula« 1938) längst erneut in deren schlimmes Tagwerk geraten sind. Sebastian Baumgarten sucht die »Auseinandersetzung« mit 2018, liefert zunächst einen kurzen historischen Abriss, der die Expansion des Imperium Romanum aufzeigt, und dann mit Hilfe der Übersetzung auch die eine und andere kleine schiefe Parallele zum sozialstaatlichen Abbau. Sein »Caligula«-Schauplatz ist nicht schön, sondern schäbig, nicht fein, sondern gewöhnlich und gemein. Statt Glanz kübelweise Dreck.
Während die Polit-Farce dünn und läppisch bleibt, ist es anders bestellt um den Schwärmer und Wahrheitsfanatiker. Angesichts einer entgotteten, unerträglichen Welt, anerkennt er kein Gesetz außer dem eigenen. Sein unbezwingbares Tun regiert ein »Reich, dessen Herrscher Unmöglichkeit heißt«. Durch den Tod seiner geliebten Schwester Drusilla steht ihm vor Augen, dass der Mensch sterblich und nicht glücklich ist – und somit nichts Bedeutung hat. Daraus folgert er, sich in einem Spiel ohne Grenzen bindungslose Freiheit zu nehmen und einer unerbittlichen Logik zu folgen, die den Menschen-Kenner in einem Blutfest zum Menschen-Verächter macht. Caligula isst das Brot der Gleichgültigkeit wie eine Hostie.
Hier nun splittert das Gedanken-Konstrukt in eine grell-farbige Gegenwart zwischen einem Riesentrichtertunnel, einem rosa Luftkissen und einer ebensolchen schwerwiegenden Camus-Biografie, dem Vorhang eines Cover-Motivs der City Boys Band International und weiterer »schwarzer« Bildpropaganda, die ein pop-postkoloniales Afrika aufruft. Aber das ist kaum jenes (Nord-)Afrika, in das Camus mit seinem letzten Roman, der einmal »Adam« heißen sollte, heimkehrte: als sein von ihm kultisch verehrtes Mutterland der vaterlosen Kindheit, in das er 1913 geboren wurde. Der karge Garten Eden von Camus’ Algerien – oder das Rom der Cäsaren – ist ein Killing Field der Sensationslüste, ein Black Sabbath mit Voodoo-Maske, Fratzen, Gummi und Leder. Eingespielt werden Dokumentarfilme aus dem Algerien-Krieg: Massaker, Gräuel und die Guillotine zu Richard Strauss’ spätromantisch walzerseligen Dreivierteltakten. Kontraste, die sich fix erledigen. Dennoch scheint in dem ruppig-prolligen Milieu – nahezu unsichtbar – eine Traditionslinie gezogen, die von Lautréamont und Baudelaire über Bataille zu Genet bis Koltès und Chéreau führt, wobei diese sogleich breit verschmiert, vulgarisiert und knallig übermalt wird. Der, der auf dieser Spur balanciert und auch kräftig neben sie treten muss, ist: André Kaczmarczyk als Caligula.
Bei Camus, dem Humanisten und Verweigerer geschichtlichen Denkens, der (anders als Sartre) hoch empfindlich war für die Ausdünstung totalitärer Herrschaft, wird Caligula zum Ideenträger eines Irrtums. Caligula stirbt – von fremder Hand, darunter denen seiner patrizischen Antipoden Scipio und Cherea – in der Erkenntnis, die Wahrheit über den Menschen verfehlt zu haben.
André Kaczmarczyk ist als disparater Irrläufer durch die eigenen inneren Konfliktzonen im permanenten Ausnahmezustand. Zunächst verstörtes enfant sauvage, gebärdet er sich als Purzelbaum schlagender Fant und ironisch hohl tönender Rhetor. Näher dran an Andreas Baader mit Knarre und rockiger Reality-Agent provocateur, wischt er unwirsch das Bild vom dekadenten monstre sacré beiseite. Zieht nervös an der Zigarette, mampft Spaghetti, verzärtelt seine Roheit, rollt die Schultern, serviert speckigen Eintopf auf dem Camus-Buchschinken, uniformiert sich trashig mit Springerstiefeln, bemalt sich zur Fetischpuppe einer schwarzen Venus, tanzt ballettös zu Nino Rotas Titelmelodie des »Paten«, eignet sich Celans »Todesfuge« an und höhnt im Gossen-Charme mit seiner ins Ordinäre stöckelnden Lollipop-Lady Caesonia (Yohanna Schwertfeger). So dreht sein »Uhrwerk Orange« durch. So schlägt er auf Baumgartens Kopfbühne auf und federt Schmutz aufwirbelnd von ihr ab. Am Ende verschwindet Caligula, dem Kaczmarczyk da noch ungeschützt im Schizo-Storm und wie in einer Halloween-Gespenstersonate die Moll-Tonart ablauscht, im hellen Tunnel-Nichts. Der Tunnelblick des Regisseurs weitet sich im Spiel seines Hauptdarstellers.