An die 600.000 Juden lebten vor der Shoah in Deutschland. Die meisten waren über Generationen assimiliert, dass sie Deutsche waren, stand für sie außer Frage. Viele waren Patrioten, stolz ihre Orden tragende Veteranen des Ersten Weltkriegs; tief verwurzelt im Geistesleben. »Deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens.« Undenkbar für sie, dass dem antisemitischen Hetzen der Nazis Taten folgen würden, die sich jeder Vorstellungskraft entzogen. Deutschland war eine Kulturnation – und sie Teil davon: Heinrich Heine und Felix Mendelssohn Bartholdy, Lion Feuchtwanger, Walter Benjamin und Max Liebermann, der Mediziner Paul Ehrlich und der Reeder Albert Ballin, der zum engen Zirkel des letzten Kaisers gehörte – Deutsche wie andere auch. Oft wenig religiös, sahen sie sich, wenn, eher einer Überlieferung verpflichtet, manche traten christlichen Kirchen bei, andere wurden oder blieben Agnostiker oder Atheisten.
»Deutschland ist für mich Heimat, aber keine normale Heimat, Deutschland hat sechs Millionen Juden umgebracht, wie sollte es eine normale Heimat sein?«, sagt Philipp Peyman Engel, Redakteur der Jüdischen Allgemeine, der größten jüdischen Zeitung Deutschlands, die vom Zentralrat der Juden in Deutschland herausgegeben wird. Geboren wurde Engel in Witten. Bevor er vor sieben Jahren nach Berlin zog, wohnte und studierte er in Bochum. Auf Reisen werde er immer wieder darauf angesprochen, wie er als Jude in Deutschland leben könne. Die Antwort darauf ist nicht einfach. Da ist die Sicherheitsfrage. Es gibt keine Synagoge in Deutschland, die nicht unter Polizeischutz steht, selbst Kinderfeste der Gemeinde müssen von Polizisten und Sicherheitsdiensten geschützt werden. Für Juden kann es gefährlich sein, erkannt zu werden: »Mit Kippa oder einem T-Shirt meines Fußballvereins Makkabi ist die Wahrscheinlichkeit hoch, in Berlin, Bochum oder Essen angepöbelt oder angegriffen zu werden«, sagt Engel. Es traue sich fast kein Jude mehr wegen des muslimischen Antisemitismus in Berlin-Neukölln, Duisburg oder Bochum mit Kippa auf die Straße. »Die Jüdische Gemeinde Bochum riet ihren Mitgliedern kürzlich sogar davon ab, sich auf der Straße äußerlich als Jude zu erkennen zu geben.«
Früher habe Engel nicht verstehen können, dass Juden davon sprachen, Israel sei ihre Lebensversicherung, die USA immer Alternative zu Deutschland. »Ich dachte, das braucht man in Deutschland nicht. Aber es ist etwas in Bewegung gekommen.« Die Erfolge der AfD, denen er ihre lauthals vorgetragene Israelfreundschaft nicht glaubt, die antisemitischen Demonstrationen von Arabern und Türken, die Anschläge auf Synagogen, auch bei Engel setzt ein Umdenken ein: »Ich sehe, wie selbstverständlich und selbstsicher Juden in Los Angeles leben, wo ich viele Verwandte habe und denke mir: Hier könnte ich auch leben.«
Aus Deutschland wegzuziehen, ist für Leonid Charga in absehbarerer Zeit keine Option: »vielleicht im Alter mal nach Israel, allein schon wegen des Wetters«, sagt er lachend. Mit zwölf Jahren wanderte der Mitarbeiter der Geschäftsstelle der Jüdischen Gemeinde in Dortmund mit seinen Eltern aus der Ukraine nach Deutschland ein. Die Chargas gehörten zu den 220.000 Juden aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die zwischen 1990 und 2005 nach Deutschland einwanderten. Sie sorgten dafür, dass die Jüdischen Gemeinden in Deutschland nicht untergingen. Ohne die Kontingentflüchtlinge würden weniger als 18.000 Juden in Deutschland leben. Die Gründungen jüdischer Schulen und Kindergärten, der Bau neuer Synagogen, es hätte sie ohne die Juden aus Russland, der Ukraine und Kasachstan nicht gegeben.
»Ich bin ein Jude in Deutschland. Die Sowjetunion, das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es so nicht mehr. Deutschland hat mich und meine Familie aufgenommen. Hier habe ich meine Bildung erhalten, konnte zur Schule gehen und studieren. Dafür bin ich dankbar. Ich würde das Land jederzeit verteidigen.« Charga sagt, es gäbe viele Juden, die so denken würden wie er. 2006 gründete sich der Bund Jüdischer Soldaten. Er ist Ansprechpartner für deutsche Juden, die in der Bundeswehr oder der Israel Defense Force (IDF), der israelischen Armee, dienen.
Persönlich fühlt sich Charga sicher in Deutschland. Was auch er unerträglich findet, ist, dass keine Gemeinde ohne Polizeischutz auskomme. »Aber im Vergleich zu Ländern wie Frankreich oder Schweden kommt die Polizei, wenn sie gerufen wird. Es gibt in Deutschland Antisemitismus von rechts, von Muslimen und auch von links, aber in den meisten anderen europäischen Staaten ist es noch schlimmer.« Morde an Juden seien in Frankreich passiert – in Deutschland bislang nicht.
Aber ist Deutschland deshalb seine Heimat? »Bochum, Dortmund und das Ruhrgebiet sind meine Heimat. Hier wohne ich, habe meine Familie, habe studiert, hier ist Borussia Dortmund.« Heimat sei für ihn vor allem etwas Regionales, wo die Menschen wohnen, die man liebe und denen man sich verbunden fühle.
Dr. Dmitrij Belkin ist Historiker, Kurator, Autor und Referent bei ELES, der jüdischen Begabtenförderung in Berlin. Belkin zog 1993 als Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland. Seinen von Idealismus und Jugend geprägten Plan, nur ein paar Jahre im Land zu bleiben und dann in seine Geburtsstadt Dnepropetrowsk zurückzukehren, um eine geisteswissenschaftliche Universität zu gründen, gab er schnell auf. Auch seine Eltern und seine Frau zogen schließlich nach Deutschland.
In seinem Buch »Germanija« berichtet Belkin von Gesprächen mit Juden in den USA und Israel, für die es undenkbar wäre, in Deutschland zu leben. »Für die Tatsache des Lebens in Deutschland brauche ich keine Medaille, keine Auszeichnung, ich will auch nicht ›ein Geschenk‹ für dieses Land genannt werden. Im Gegenteil, ich bin der Meinung, dass ein öffentlich artikuliertes, gern leicht ironisches Dankeschön an die Menschen Deutschlands (den Ministerien und Ämtern kann man schlecht danken), durchaus angebracht ist. Das habe ich zum Teil mit meinem Buch getan. Uns wurde viel geholfen, auf ›uns‹ Juden freuen sich die meisten hier.«
Sie täten das bisweilen gebrochen, ängstlich, überschwänglich philosemitisch oder auch unbewusst antisemitisch. Doch sie tun das. »Meine Heimat ist Dnepropetrowsk, UdSSR. Weil ich dort geboren und 21 Jahre verbracht habe. Das Land existiert nicht mehr, die Stadt heißt heute anders. Als Historiker muss ich das analysierend zur Kenntnis nehmen und mich mit neuen Realitäten abfinden, die Ukraine dabei unterstützend. Deutschland ist mein Land, zu dem ich stehe, das ich promote, nicht gegen jemanden, nicht für eine chimärische deutsch-jüdische Normalität, sondern allein dafür, dass ich mit meiner Frau und unserem Sohn hier lebe, öffentlich und intellektuell mitspiele und die Gesellschaft weiter mitgestalten darf. Heute in Berlin, im Bayerischen Viertel lebend und in Moabit arbeitend.« Kann aber Deutschland dennoch schlicht Heimat für Juden sein? Was muss das Land tun, um das zu erreichen?
Belkin: »Mein Eindruck ist, dass die gegenseitigen Hemmungen – mentaler, sprachlicher, politischer Art – die Beziehungen zwischen den Juden (es gibt nie im Leben die Juden, denn die jüdische Gemeinschaft Deutschlands ist vielfältig und nicht homogen) und den Deutschen (hier gilt dasselbe) immer noch bestimmen. Das wird auch in der nächsten Zukunft nicht anders sein. Dieses Land muss zu sich kommen, aber nicht so, dass unsere ›dämliche‹ Bewältigungspolitik gleich über Bord geworfen wird und an ihre Stelle ein diffuser, dreiviertel rassistischer und egoistischer Nationalismus kommt.«
Das Land, sagt Belkin, müsse sich in Europa finden, ohne das Wort deutsch aufzugeben, mit all seinen Ambivalenzen. Dürfe nicht die Augen verschließen, wenn Juden und andere Minderheiten diskriminiert werden und müsse endlich realisieren, dass die Integration sich nicht durch ein ›Werdet endlich wie wir‹ auszeichnen solle. »Bei diesen Prozessen, denke ich, wenn ich mir unsere Stipendiaten und Alumni anschaue, werden die jüdischen Intellektuellen bald eine größere Rolle spielen und dabei hoffentlich die deutsche und europäische Zivilgesellschaft mitprägen.«