REZENSION ANDREAS WILINK
Es sind Überschreibungen: beide Filme. Nehmen wir das Wort Transit wörtlich, das vom Lateinischen ’transire’ stammt, so heißt es hindurchgehen. Aber es ist nicht so sehr der örtliche Sinn, als vielmehr das zeitliche Kontinuum, das sich bei Bierbichler und Petzold aufhebt und von ihnen jeweils ganz anders, jeweils überzeugend neu gefüllt wird. Bei Bierbichler auf barocke, wuchtige Weise, bei Petzold sachlich, spröde, heruntergekühlt und von evangelischer Strenge. Der eine adaptiert für die Leinwand sein eigenes Buch »Mittelreich«, der andere den Exil-Roman der Anna Seghers. Beide Regisseure nutzen die Vorlage wie ein Palimpsest.
Bierbichlers (bis in kleinste Rollen u.a. mit Irm Hermann, Traute Hoess, Catrin Striebeck exzellent besetzte) Familienchronik aus Krieg und Frieden, die 1914 einsetzt und bis ins Gegenwärtige reicht, erhält Rahmung durch das Gespräch zwischen Vater Pankraz und Sohn Semi (Simon Danatz) anlässlich der Beerdigung der Ehefrau bzw. Mutter Theres (Martina Gedeck). Der stockende Dialog in der Bauernstube löst das Sprachlose zwischen ihnen: Sühne, Bekenntnis verfehlten Lebens, Beichte um Vergebung, Schuld und Unsegen, Erinnerungen, die sich an die berühmte Arie aus dem musikalischen Schauspiel »Der Evangelimann«, »Selig sind die Verfolgung leiden«, binden.
Ein Gasthof am Tegernsee, den die Kamera anfangs, sich langsam annähernd, in den Blick nimmt (überhaupt ist die Bildgebung eine weiche, fließende), bleibt beinahe der einzige Schauplatz. Bierbichler, der sowohl den gestrengen Vater von Pankraz spielt wie auch den älter gewordenen Sohn Pankraz, bewegt sich wie alle Figuren in offener Dramaturgie durch ein theatral gestaltetes Drama, das gleichwohl filmisch wunderbar wagemutig bis hin zum Experimentellen montiert (und gelegentlich arretiert) ist. Pankraz, der Sänger und Künstler werden wollte, muss, als sein älterer Bruder nach einer Kriegsverwundung irrsinnig wird, den Hof übernehmen. Er überlässt seinen drei Schwestern das Regiment des Haushalts, fungiert als Bürgermeister, reibt sich auf, entfremdet sich Frau und Kind.
Die 140 Minuten haben eine physisch elementare Erzählkraft mit Szenen von geradezu Shakespeare’scher Aufladung: ein nächtlicher Sturm, der mit Wagners »Holländer« an den Fundamenten rüttelt und Pankraz nicht nur metaphorisch beinahe vom Sog des Sees verschlingen lässt; die Schlachtung eines Schweins; ein ins Groteske gesteigertes Fastnachtstreiben; eine Massentötung durch die SS mittels Autoabgase, die der soldatische Befehlsempfänger Pankraz zu erfüllen hat. Zwei Wiedergänger, besagte »Herren im Anzug« (Peter Brombacher, Johan Simons mit ihren holzgeschnitzten Köpfen), durchwandern zudem als Beckett nicht ganz fern stehende Zeugen der Geschichte die Stationen.
Das feinnervige Schauspieler-Naturereignis Bierbichler hat – ohne je epigonal zu sein – seinen Kroetz und Oskar Maria Graf, Horváth, Fleißer und Achternbusch, aber auch Veit Harlan, Reitz und Schlingensief im Kopf. All das ist ererbt da und wird doch etwas Ureigenes. Das bayerisch Heimatliche, Katholische, Nationale (und mörderisch Nationalsozialistische), der Verwesungsgeruch des Vaterländischen in diesem Sittenbild mit Votivcharakter schlägt mental Wurzeln, sei es Fluch beladen, sei es im zweifelhaft Geborgenem.
Auch Christian Petzold ist ein Gespenster-Beschwörer. Es sind immer auch die Geister von heute. Ein Mann auf der Flucht. Haltlos. Ein Verlorener und Verlorengeher. Unterwegs auf Straßen, im Zug, hoffend auf ein Ziel, von einem Fremdenzimmer ins nächste. Lineaturen von Bewegung strukturieren die Film-Erzählung. Georg (Franz Rogowski) kann gerade noch Paris verlassen und das unbesetzte Marseille erreichen. Er reist unter falscher Identität, nachdem er Pass, Schiffspassage und Transit-Dokumente für Mexiko des Schriftstellers Franz Weidel an sich genommen hat, der Suizid beging, wie so viele Emigranten. In dem Mittelmeerhafen begegnet er Marie (Paula Beer), der Frau Weidels, die sich von ihrem Mann getrennt hatte und ihn nun doch sucht und erwartet, ihn zu treffen. Georg wird ihr die Papiere überlassen, ohne dass sie wüsste, weshalb.
Für Petzold bedeutet 1933/1945 eine Bruchstelle, nach der es »keine Unschuld und Leichtigkeit mehr gibt«, wie er sagt. Auch in der Filmgeschichte. Die Zäsur ist ihm indes nicht historisch geworden, sondern blieb akut. »Transit« spielt im Heute: heutige Häuser, Wohnungen, Autos, Geschäfte, Kleider. Heutige Polizei-Razzien, heutige Bürokratie, heutige Schicksale. Die Gespenster von Gestern während der Nazi-Diktatur tragen die Kostüme der jetzt Verfolgten. Mit dem Kunstgriff einer Erzählerstimme, die auch ein Gesicht hat (Matthias Brandt als Barmann in einem Bistro), betont Petzold die Literarisierung des Stoffes, was es vielleicht nicht gebraucht hätte, was vielleicht sogar störend wirkt. Gleichwohl, es ist, als habe Petzold unter einer vollkommen glatten, hell erleuchteten Oberfläche doppelte Böden eingezogen. Wie er Gefühlsentleerung und Selbstbefremden, das Empfinden von Scham, selbst noch einmal davon gekommen zu sein, während es andere ereilt, Bangen, die Landläufigkeit des Todes, das unmerkliche, unheimliche Zerstörungswerk, das in Menschen angerichtet wird, inszeniert und zeigt, hat große Präzision und künstlerische Stringenz. Ein Statement ohne Parolen. »Transit« ist ein Gleichnis – und darin Ereignis.
»Zwei Männer im Anzug«; Regie: Josef Bierbichler; D 2018, 140 Min.; seit 22. März. »Transit«; Regie: Christian Petzold; D 2018; 105 Min.; ab 5. April