REZENSION ANDREAS WILINK
Die Schildkröte, die zu Anfang von rechts nach links und am Ende von links nach rechts durch die mit Kakteen bewachsene Wüste wandert, heißt »President Roosevelt« und war lange zuhause bei Howard. Sie gehörte ihm nicht, nun musste sie, offenbar einem inneren Auftrag folgend, fort und ihren Weg nehmen. Mit den Menschen in dem Film von John Carroll Lynch (ja, dem Sohn von David Lynch, der den Howard spielt) ist es ähnlich.
Sie tun, was sie tun müssen. Was gibt’s da groß nach Gründen zu fragen. Lucky zum Beispiel. Da ist das Wiederholungsritual des Aufstehens, Anziehens, Rasierens, Kämmens, der Yoga-Übungen, des Glases Milch aus dem Kühlschrank und des Öffnens der Tür seinen Holzhauses: Der alte Mann steht im hellen Gegenlicht der Sonne und raucht eine Zigarette. So geht der Tag weiter: ein Gang zum Diner, Kaffee, Thekengespräche, Einkaufen im Drugstore, Rateshows im Fernsehen, abends der Bar-Besuch, wo Howard, die Wirtin Elaine und deren Lebensgefährte Paulie sitzen.
Lucky ist allein, aber fühlte sich nicht einsam. Bis jetzt. Dann aber an einem der nächsten Morgen klappt er zusammen, einfach so. Dabei ist physisch alles in Ordnung, wie der Arzt sagt, für sein Alter. Aber mit der Zeit hat der Organismus sich abgenutzt, müde geworden vom Gebrauch. Lucky spürt den Tod nahen, die Erfahrung beschäftigt ihn, dieses Erkennen muss er für sich klären. Mehr passiert nicht in »Lucky«. Es gibt ein paar Gespräche, eines über seinen Dienst während des Kriegs im Südpazifik, und ein paar Erinnerungen, eine über den Gesang einer Spottdrossel, der endet, als der kleine Junge den Vogel mit einer Pistole erschießt und die Welt plötzlich still und leer ist: »der traurigste Moment meines Lebens«.
Einmal hat er einen Traum in brennendem Rot mit einer Leuchtschrift, die das Wort »Exit« zeigt. Harry Dean Stanton, der nach dieser Rolle mit 91 Jahren starb und 1984 so einprägsam in Wenders’ »Paris, Texas« gespielt hat, lässt mit dem Blick seiner Augen vieles spüren: Angst, das Wissen, dass nichts von Dauer ist und alles schwinden wird, und dass glückendes Leben vielleicht bedeutet, dieser Grenze lächelnd zu begegnen. Auf der Geburtstags-Party für einen Zehnjährigen singt Lucky mit brüchiger Stimme auf Spanisch »Volver« – ein wehmütiges Lied vom Zurückkehren. Die Wunde, die jeder auf seine eigene Weise davonträgt, beschäftigt ihn, so oder so, ein Leben lang.
»Lucky«; Regie: John Carroll Lynch; USA 2017; 88 Min.; Start: 8. März