Das Theater, klotzig und gläsern, liegt fernab vom Weg, nicht im städtischen Zentrum, sondern an einer Ringstraße, platziert im Niemandsland, aus dem heraus in Höhe der Abzweigung schon wieder blaue Autobahnschilder führen. In den zu weitläufigen Foyers, die passend zur Zeit Weihnachtskonzerte mit Lustigen Musikanten oder auch den »Kalle Blomquist« annoncieren, verlieren sich die Ankommenden. Im Eingangsbereich steht die Statue eines jungen Flötenspielers mit ernster Miene, im Rang-Foyer ein schlankes goldbronziertes Wesen mit Geige, das fast Buddha-hafte Gesichtszüge trägt (eine Beschriftung fehlt). Ob es eine der Musen darstellt, wer weiß? So wenig, wie man weiß, ob an diesem Abend die Musen schweigen oder sprechen werden. Man sieht gesetzte Paare, viele meist weibliche Grüppchen, überhaupt deutlich mehr Frauen, 40 Jahre aufwärts. Der Saal wird, wenn die Aufführung beginnt, im Parkett halb gefüllt sein.
Das Landestheater Dinslaken ist zu Gast im Heinz-Hilpert-Theater Lünen. Hilpert, prägender Regisseur der zwanziger und dreißiger Jahre, war Intendant des Deutschen Theaters Berlins im Nazi-Staat, tätig u.a. in Wien und Zürich und im Nachkriegs-Göttingen und wurde u.a. durch drei Uraufführungen (»Der Hauptmann von Köpenick«, »Geschichten aus dem Wienerwald«, »Des Teufels General«) Teil der deutschsprachigen Theatergeschichte. Zwar wurde er weder in Lünen geboren (sondern 1890 in Berlin), noch starb er dort (vielmehr 1967 in Göttingen), doch wurde das Haus bei seiner Eröffnung 1958 nach ihm benannt. In der Stadt an der Lippe sind das Theater und sein Namenspatron offenbar ein Begriff. Nachdem ich mich verfahren hatte und am Straßenrand einen jungen Mann ‚mit Migrationshintergrund’, der nicht wie ein Abonnent des Heinz-Hilpert-Theaters aussieht, nach dem Weg frage, kommt die präzise Antwort ohne Zögern.
Die Burghofbühne Dinslaken, eines der vier Landestheater in Nordrhein-Westfalen (neben Neuss, Castrop-Rauxel, Detmold) zeigt »Die Reifeprüfung« nach Mike Nichols’ Film mit Dustin Hoffman und der Musik von Simon & Garfunkel, die jeder im Ohr hat. Die Musik fehlt, auch. Abgesehen davon, dass einmal von den insgesamt sieben Schauspielern »Sound of Silence« gesummt wird. Es ist die dritte Vorstellung. Premiere war vier Wochen zuvor. Es gibt lange Lücken zwischen den geografisch weit gestreuten Terminen (Itzehoe, das hessische Wetzlar und Wangen im Allgäu liegen etwa auf der Route), was nicht heißt, dass das Ensemble wenig zu tun hätte. Ganz im Gegenteil.
Zehn Neuproduktionen und 250 Aufführungen pro Saison wollen gestemmt sein, bei einem Jahres-Etat von 1,5 Millionen Euro inklusive der Eigeneinnahmen (ein erheblicher Anteil von 33 Prozent). 26 fest angestellte Personen müssen bezahlt werden. Die vier festen Ensemble-Mitglieder und die regelmäßig engagierten Gäste hasten per Bus mit den jeweiligen Stücken an die Spielorte: inklusive dem wichtigen, theaterpädagogisch motivierten Kinder- und Jugendtheater sowie der Bürgerbühne gehören circa 25 zum Repertoire, darunter im Schauspiel Brechts »Mutter Courage«, Kleists »Krug«, »Bunbury«, und »Die Vermessung der Welt«. Bleibt man im regionalen Radius, geht es anschließend wieder heim. Am nächsten Vormittag ist Probe.
Was der Außenstehende kaum bedenkt, sind die Buchungsvorläufe der Kunden. Intendant Mirko Schombert verweist auf »das Schwierige des Disponierens und die Abhängigkeit von Verkäufen« sowie deren Dringlichkeit: »Wir müssen verkaufen, um existieren zu können – und beim Spielplan den Markt mitdenken«. Das Terminierungs-Modell wiederum sorgt dafür, dass Stücke lange liegen und mühsam zu taktende Wiederaufnahmeproben brauchen: Denn eine solche Aufführung kommt »schwer in Fluss«. Auf Dauer sind Schauspieler nicht zu halten, dass wissen alle Beteiligten: zwei bis drei Jahre, nicht mehr. Anfänger haben indes den Vorteil, sehr viel zu spielen, und in einem »guten Team mit gutem spirit« (Schombert) zu sein.
Der Monatsplan mit 20 bis 30 Terminen ist dicht. Das schlaucht. Verbraucht Energie. Diese wiederum während der Vorstellungen abzurufen und Konzentration herzustellen, wenn sich Halbwüchsige im Saal lümmeln, sich mehr mit ihren mobilen Daten beschäftigen, als mit dem Drama auf der Bühne, untereinander hemmungslos quatschen und rein- und rausrennen, ist bestimmt schwer. Kostet eher Extra-Kraft.
Vor drei Jahren, für Goethes »Faust« zu Beginn von Schomberts Intendanz, besuchte ich die charme-freie Stadthalle Kamp-Lintfort, wo es in der Vorhalle aussah wie bei einem Evangelischen Kirchen-Basar. Atmosphäre stellte sich nicht her. Was bleibt, ist Unbehagen. Mit den Verhältnissen am Schauspielhaus Bochum, Düsseldorf oder Köln, ohne deren Zwänge und Anforderungen an die Kapazitäten der Schauspieler klein zu reden, hat das wenig gemeinsam. Wenn unsereins von Theater spricht, meint er etwas anderes als diejenigen, die das Gros der Zuschauer bilden. Notgedrungen auch als diejenigen, die es mit Engagement machen. Friederike Bellstedt, verpflichtet als Gast in zwei Produktionen, sieht als Manko, dass man – anders als im fest verorteten Stadttheater, sein Publikum nicht kenne. Andererseits: »Wir merken die Dankbarkeit eines oft eher unerfahrenen Publikums, das nur alle paar Wochen ein Gastspiel zu sehen bekommt. Das stellt eine tolle Verabredung her.«
Es ist in Lünen, wie wenn die Zeit stehen geblieben wäre, und man kehrte zurück in die sechziger, frühen siebziger Jahre, wo damals der Schüler des St. Georg-Gymnasiums in Bocholt – übrigens heute noch ein Zielort der Bühne in Dinslaken – die Tournee-Theater (die jährlichen Vormiete-Reihen waren nach Farben sortiert) besuchte. Er sah Maria Becker, Heidelinde Weis, Sonja Ziemann, Charles Regnier oder Gustav Knuth bei Dürrenmatt, Giraudoux, Tennessee Williams oder Schiller im Kinosaal der Lichtburg. Erst 1977 wurde ein architektonisch ambitionierter Neubau bezogen, der in seinem das Technische nach Außen kehrenden Stil sogar ans Pariser Centre Pompidou denken lässt. Da ging der Student allerdings schon ins Düsseldorfer Schauspielhaus.
Allein, die Inszenierungen haben sich geändert, Kulissen sind fort geräumt, das Spiel ist offener. Auch »Die Reifeprüfung« arbeitet den Improvisations-Charakter heraus (das Ensemble sitzt seitlich auf Stühlen, kleidet sich um, hört zu, wenn es nicht selbst in Aktion tritt), lässt das Illusionstheater hinter sich und strapaziert bewusst mit Wiederholungschleifen.
Ein Bühnenbild muss schnell baufertig sein. Für »Die Reifeprüfung« ist es ein weißer Kasten, der anfangs das Innere des Swimmingpools meint, in den Benjamin abtaucht, weil ihm seine Eltern und deren generöse, aber emotional defekte Generation die Luft abklemmen: Ben under Ground. Die meiste Zeit aber symbolisiert der große Schuhkarton Bens Gefangensein in den Konventionen (der Film nach dem Roman »The Graduate« von Charles Webb entstand passgenau 1967 und lief 1968 in unseren Kinos): eine Zelle, gegen deren Wände der Highschool-Absolvent und seine Partner stoßen, mit Händen und Füßen sich stemmen und mit dem Kopf anrennen.
Die Szenen (Regie: Matthias Fontheim) zwischen Ben und Misses Robinson, die Friederike Bellstedt als Typus fern von Anne Bancroft gibt – eine schmale hohe blonde Frau, die ihre Erotik mit dem souveränem Mädchenstolz von Nicole Kidman präsentiert und propagiert, die in einer Nacktszene (Raunen im Saal) keinerlei Ich-Schwäche zeigt, die rüde lacht wie Bette Davis und die Zigarette offensiv glimmen lässt wie Lauren Bacall, besitzen Spannung und Dichte. Die anderen, entweder eifrig überdreht oder sehr untertourig, tun das weniger.
Bellstedt vermisst dadurch, dass man nicht wisse, wie der Ort aussehe, an dem gespielt werde, und sich ganz kurzfristig mit ihm vertraut machen müsse, »das Sicherheitsgefühl«: »Ich kann nur den Inhalt und meine Erinnerung mitnehmen. Die Vorbereitung findet allein bei mir im Kopf statt.«
Einmal kraxelt Patric Welzbacher, der Darsteller des Ben, durch eine Parkettreihe, begleitet von wohlwollend jovialer Heiterkeit. Hier hat der Schauspieler als Außenseiter noch die Entlastungsfunktion des Narren im feudalen Zeitalter. Schaut nur, wie komisch, irre, tollkühn, ungebührlich und antibürgerlich jemand sein kann – und darf im Spiel. Ein bisschen fühlt sich so jeder teilhaftig dieses Über-die-Stränge-Schlagens – für 90 Minuten.