REZENSION ANDREAS WILINK
»Wieso jetzt Maske«, fragt die Schauspielerin irritiert. Wieso jetzt auf einmal eine schwarze-Locken-Perücke tragen, sich neu schminken lassen, Typus und Charakter verändern? Sie ist zum Casting geladen: für die Rolle der Petra von Kant aus Fassbinders Film der »Bitteren Tränen«. Die Regisseurin (Judith Engel) ist unentschieden und weiß vor allem, was und wen sie nicht will. Die Assistentin und der Redakteur, dem der Fernsehsender mit seinen Vorgaben im Nacken sitzt, drängen, Team, Technik, Kulissen-Bauer, Studio-Betrieb warten und warten, dass der Dreh losgehen kann. Aber die Besetzung der Hauptdarstellerin ist offen. Eine Kandidatin nach der anderen erscheinen zum Vorsprechen, um sich zu präsentieren im Dialog mit dem Proben-Anspielpartner Gerwin (Andreas Lust), der den Schauspiel-Beruf eigentlich aufgegeben hat und Karl, der das geliebte Objekt der Petra von Kant darstellt: also Mann ist und nicht Frau wie in der radikal psycho-pathologischen Film-Vorlage.
In dem Liebes-Drama geht es – wie auch beim extrem angespannten »Casting« – um Macht und Ohnmacht, Härte und Kälte, die Spielregeln der Lüge, das Absolutistische des Gefühls, Selbstergründung, Selbstentblößung, Selbstaufgabe, Hingabe, Demütigung. Ein Stresstest: Auf die hysterisch-nervöse, kapriziöse Erste (Ursina Lardi) folgt die sich zu reflektiert an die Innenbeschau Verausgabende (Marie-Lou Sellem), dann die sich souverän, herb und überlegen gebende Diva (Corinna Kirchhoff), schließlich der von der Produktionsfirma eigentlich bereits gesetzte, maskenhafte Star (Andrea Sawatzki), der nicht auf die Kränkung der Ablehnung gefasst war. Zuletzt kommt die Not- und Kompromisslösung und erweist sich als Idealbesetzung (Viktoria Trauttmansdorff).
Die Kandidatinnen machen sich nackt, geben sich preis, verschleißen sich, liefern sich aus, auch der schwule Garwin, dessen Männlichkeit von der Regisseurin ›untersucht‹ und ›überprüft‹ wird. Nicolas Wackerbarth legt mit fein-böser Ironie und geschärftem Kennerblick Mechanismen frei und lässt uns bei mehrfachen Wechseln und Irritations-Schrauben von Rolle und Figur, Kunstprodukt, Kunstproduktion und Lebenswahrheit, ›echter‹ Intensität und artifiziell hergestellter Einfühlung ins Straucheln geraten. Wer ist bei diesen subtilen Jagden Täter, wer Opfer, wer bleibt auf der Strecke, wer geht als Sieger in die Großaufnahme der Kamera? Fassbinders Film übers Filmemachen heißt übrigens »Warnung vor einer heiligen Nutte«. Für »Casting« gilt der Hinweis: Unbedingt anschauen!
»Casting«; Regie: Nicolas Wackerbarth; D 2017; 100 Min.; Start: 2. November.