REZENSION ANDREAS WILINK
Etwas läuft extrem aus dem Ruder. Aber die Richtung ist lange unklar. Darf sie auch sein, weil sich Ruben Östlund 144 Minuten Zeit nimmt, um die Steuerung zu justieren. Künstler-Kreise, Kultur-Volk, Werber-Szene, Stockholms Upper Class, die Ausstellungen sponsert, Stiftungen gründet, exklusive Dinner-Events besucht, Theorie-Diskursen lauscht.
Kristian, Kurator am Royal Museum in Stockholm und von der Brille bis zum Techno-Dancing perfekt in allem, was angesagt ist, präsentiert ein neues Kunstwerk. Es heißt, wie der Film, »The Square«: ein Rechteck von vier mal vier Metern, eingelassen in den gepflasterten Boden und gedacht als symbolischer Schutz- und Fluchtort. Die Mini-Plattform steht für die außerhalb seiner Maße vernachlässigten Rechte und Pflichten einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft. Eine Werbeclip-Kampagne für das Kunstquadrat, entwickelt von drei jedes Klischee erfüllenden Agentur-Schnöseln, zeigt ein blondes Bettler-Mädchen, das, nachdem es die Freistatt betreten hat, von einer Explosion zerfetzt wird. Aufmerksamkeit gerieren um den Preis zynischer Provokation: »viraler Effekt«. Es kommt zum Skandal.
Parallel dazu passieren Kristian komische Sachen und ziehen eine Spur der Irritation durch die Handlung, in die die Gegenwelt der Obdachlosen und Sozialgeschädigten vielfach Einlass findet. In ein Künstler-Interview spuckt jemand mit Tourette-Syndrom Obszönitäten aus. Bei einem Trickdiebstahl verliert Kristian Handy und Brieftasche, kann sie sich aber wiederbeschaffen, indem er das Telefon ortet und im entsprechenden Wohnblock Botschaften ausstreut. Aus einem One-Night-Stand mit einer Journalistin, in deren Wohnung sich ein Schimpanse häuslich eingerichtet hat, ergeben sich für den Mann unangenehme Fragen. Irgendwann ist der Lack ab von Kristian, beruflich und persönlich.
Der krasseste Moment erfolgt während einer Performance vor erlesenem Publikum, bei der ein Mann, nackt und wild wie Tarzan, den man zuvor auf einem Video sah, wo er sich in seine wölfische Natur zurückverwandelt, nun live die Gäste anfaucht, betatscht und attackiert, bis die Leute starr vor Angst sind, um dann ihrerseits die zivilisatorischen Hemmungen zu verlieren. Triebregulierung setzt aus.
Immer wieder erklingt Bachs/Gounods Ave Maria in einer elektronischen Version und setzt ein Zeichen, das der Bitte um Gnade in einem gnadenlos kapitalistischen System Hohn spricht. Doch der satirisch grelle Grundzug dieses scharfsinnig intellektuellen Abenteuers weicht mehr und mehr einer tiefdunkel getönten Sicht auf das westlich versnobte Lebensmodell, das gerade da, wo es sein Gewissen entdeckt und von politischen Strukturproblemen und Korrekturmaßnahmen spricht, am aller-
wenigsten zu sagen hat.
»The Square«; Regie: Ruben Östlund; Schweden / Dänemark / D / F; 140 Min.; Start: 19. Oktober 2017