REZENSION ANDREAS WILINK
Man werde »zurückgeworfen auf den Stummfilm«, sagt Alexander
Kluge im Vorübergehen und meint seine vorbereitende Beschäftigung mit dieser Ausstellung im Museum Folkwang, die von der Kuratorin Anna Fricke begleitet und geleitet wird. En passant – und extemporiert – ist bei ihm mindestens ebenso viel Erhellendes zu hören, wie bei der Betrachtung der Schaustücke und im Durchqueren der frappierenden Raum-Installationen mit ihren neuen, neu gedachten, neu in Beziehung gesetzten Arbeiten zu sehen. Da fällt dann etwa ein Satz von ihm wie »Die Geräte sind wie Lebewesen, man muss sie achten«, als er in Raum 3, dem »Arbeitszimmer«, vor seinem Mischpult steht und parallel seine Arri-Kamera erklärt, mit der er und etwa auch Werner Herzog gefilmt haben.
Der Apparat ist die Muse – zur Reflexion. Kluge war von Beginn an jemand, der so dachte und drehte. Die Methode sollten so unterschiedliche Regisseure wie Reitz, Straub, Schroeter und Syberberg anwenden, sie alle Protagonisten des Neuen Deutschen Films. Damals sagte man, wenn Fassbinder das Herz und wenn Wenders das Auge dieses Kino-Aufbruchs ab Mitte der sechziger Jahre seien, dann Kluge der Kopf. Mehr als ein Namens-Spiel.
Kluge verband und verbindet in sich scheinbar auseinanderstrebende Interessen, Vorbilder und Einflüsse. Der Schüler Adornos assistierte nach dem Krieg dem aus dem Exil heimgekehrten Fritz Lang und hat mit Oskar Negt wesentliche soziologische Studien verfasst. Was ist er nicht alles! Essayistischer Filmemacher, Pionier des Mediums Fernsehen, filmpolitischer Stratege, Büchermensch, Anti-Apokalyptiker, sensibler Spurensucher von »Erzählungen der Geschichte«, ihres Nachhalls und »inneren Chors« in die Gegenwart hinein. Der luzide Durchblick, der den subjektiven Illusionscharakter stets mitdenkt, reicht vom alten Rom bis zum Islamischen Staat, von Ovid bis Derrida. Der empathische, neugierige, liebenswürdige Gesprächspartner und Zuhörer sowie inspirierte Kommunikator, der bevorzugt und zuvörderst den »mündlichen« Austausch schätzt, ist einer der wesentlichen Intellektuellen dieser Republik.
Bei Goethe heißt es: »Bezüge sind das Leben«. Das gilt für die Ein-Mann-Denkfabrik Kluge nicht minder. Dass der Anspruch ein universaler, nahezu kosmischer ist, leuchtet einem sogleich ein, wenn man sich nach dem Entree im Museum Folkwang mit Tafeln zu Kluges biografischen Daten und dem raunenden Sound wissenschaftlicher Stimmen von einer wandhohen Sternenkarte umgeben sieht, auf der sich Kluges Fixpunkte markieren. Prägende Stichwörter wie »Zirkus«, Charakteristisches wie »Hautnähe«, Lebensbestimmendes wie »Halberstadt brennt«, Begriffe wie »politische Ökonomie« und »Entfremdung«, Methoden wie »Hebammentechnik« und »Bodenhaftung« stechen hervor; auch ein Zitat seiner Filmfigur, der Geschichtslehrerin Gabi Teichert, ist zu lesen: »Wo du nicht lieben kannst, da gehe vorüber.«
An einer späteren Stelle liegen auf einem Tisch Geburtszange, Lupe und Fernrohr als Werkzeuge für Kluges Technik – Instrumente im Dienst der Vernunft, die zu seinen uns gleichfalls hier präsentierten Heroen und Paten passen: Kant, Leibniz, Adorno, Habermas.
In der Mitte der ersten von sechs weitläufigen Stationen und Themenfeldern liegt auf einem Podest eine mit einem gerollten Papier gefüllte Flasche. Die »Flaschenpost« birgt Botschaft an die Zukunft, wann und wo auch immer sie einen Adressaten erreichen mag. Ein paar Schritte weiter werden Paul Klees dramatisch beschwerter »Angelus Novus« und dessen burlesker Bruder, »Strudel, der Clown«, den Kluge aus seiner eigenen Sammlung beigesteuert hat und den er einen »Praktiker« nennt, zu Führern und Leitbildern durch den Parcours.
Kluges Grundidee von »Lebenszeit« und »Eigensinn« als individueller Währung und persönlichem Besitz, die sich mit kleiner Münze zur reichen Summe addieren können, durchzieht die Ausstellung. Wie ein Astronaut kann der Besucher durch die Raumfolge gleiten, schweben, andocken, zu neuen Ufern aufbrechen, den Sternenstaub der Gedanken zu fassen suchen, sich erkenntnishaft erhellt fühlen oder vom kosmischen Dunkel umhüllt.
Manchmal wird es eine Spur hagiografisch, wenn sich in »seinen« Regalen, auf Tischen und in Vitrinen Bücher, Filme, Notizen, Textbeiträge sammeln. Aber das Lebenswerk des 85-Jährigen ist nun einmal imposant. Wir begegnen der antiken Tragödie und ihrer Spätfolge Heiner Müller, hören Musik (»Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum«), werden vielfach konfrontiert mit dem »Ernstfall Krieg«, basierend auf der Ur-Erfahrung des Luftangriffs 1945 auf seine Heimat Halberstadt für den 13-Jährigen. Wir blicken mit ihm auf Aby Warburgs Augen-Kunde, begegnen dem Bild-Pionier Werner Nekes und den geschichtsarchäologischen Dialogpartnern Thomas Demand, Anselm Kiefer und Gerhard Richter, treffen auf Geistesverwandte wie Eisenstein, Kubrick und W.G. Sebald. Wir schauen auf Fontanes märkischen »Stechlin«-See, in dessen Tiefe – laut Roman – seismografisch das globale Rumoren Widerhall findet. Kluges Welt im Kopf, seine historische, politische, naturwissenschaftliche, ästhetische und künstlerische Welthaltigkeit machen einen staunen. Kluge, dessen sich wiederholend einladendes, bestätigendes und um Zustimmung heischendes »Ja« am Ende eines jedes Satzes entschieden zu ihm gehört, nennt seinen Dialog mit Künstlern sehr schön einen »Naturalien-Tausch«.
Im zentralen Projektionsraum 4 »Archiv – Das Gedächtnis der Bilder« mit fünf Screens collagiert und montiert der wahre Märchen-Erzähler, Realist des Herzens und »Schlafwandler der Geschichte« (Florian Illies) sein großes anti-hierarchisches Memory-Spiel. Aber eben nicht nur mit Fritz Langs »Nibelungen« oder seiner eigenen berühmten Sentenz »Uns trennt kein Abgrund von Gestern, sondern die veränderte Lage« (»Abschied von Gestern«), sondern in radikaler Zeitgenossenschaft und brennend bei politischen Fragen blenden der G20-Gipfel, Syrien, Trump, die Krise Afrika auf. Viele viele Assoziationen, ediert zu Sequenzen und Versuchsreihen. All das, was in unseren Köpfen nebeneinander haust, interagiert und scheinbar zufällig herauskommt, ist ebenso aus dem Bildspeicher zu fördern. Film definiert sich Kluge als »Wechsel zwischen Hell und Dunkel in jedem 48stel einer Sekunde. Diese winzige Pause, die wir bewusst nicht wahrnehmen beim Filmgucken, bringt Unbewusstes, Vorbewusstes im Menschen hervor.« So entstehe der »Zauber der verdunkelten Seele«.
Kluges Dramaturgie der Überraschung und seine Poetologie des Simultanen und Überblendens der Wirklichkeit und Gegenwart mit der Vergangenheit ist eine nie versiegende Inspirationsquelle. Uns erschließt sich die nicht-versiegelte Zeit. Bilder ergänzen und heben sich gegenseitig auf, sprechen miteinander, setzen Sinn und Gegensinn, schaffen Einsicht und Unübersichtlichkeit, dekonstruieren sich nach dem Prinzip von Korrelation, Kooperation und Kontrast und analysieren unseren Gefühlshaushalt im Sinne Freuds, wonach man »an den Widerstandslinien entlang erzählen« müsse.
Am Ende der Säle und des Schauens jeder Menge Filme angelangt (Kluge würde sogleich sagen: »Auswege gibt’s immer«), erinnert man sich, auch eine Fortuna mit Füllhorn gesehen zu haben. Die Göttin, die das Glück austeilt, könnte Alexander Kluges emblematische Figur sein.
Museum Folkwang, Essen; zahlreiche Begleitveranstaltungen; Katalog-Publikation: Spector Books, 472 S., ca. 240 Abb., 24 Euro; bis 7. Januar 2018.