REZENSION ANDREAS WILINK
Ein Mann, später noch ein zweiter sowie eine Frau – in einer Verhörsituation. Die Bilder sind schwarz-weiß (wie der Film insgesamt), die Delinquenten uns gerade zugewandt, sie haben geschorene Köpfe, tragen stilisiert graue Jacken, sprechen frontal in die Kamera, jeweils im exakt gleichen Ausschnitt, wie auf einer sachlichen Fotografie von Bernd und Hilla Becher, wenn das Paar denn Menschen in Serie porträtiert hätte.
Die Drei erzählen aus ihrem Leben in einer Extrem-Situation: der Nazi-Zeit, der europäischen Katastrophe und Shoah. Jules (Philippe Duquesne) – ein gepflegter Familienvater und äußerlich ehrenwerter Mann, arbeitet als Polizeibeamter im besetzten Frankreich Hand in Hand mit der Gestapo und hat in seinen Zellen einige neue Gefangene, die verhaftet wurden, als diese in der Résistance Aktiven jüdische Kinder versteckten. Darunter die adlige Exilrussin Olga, die Jules bereit wäre, laufen zu lassen, wenn sie ihm ein Rendezvous gewährte. Dazu kommt es nicht: Jules wird vor den Augen seines Sohnes von Widerständlern erschossen. Auch Olga (Julia Vysotskaya) gibt ihre Geschichte zu Protokoll. Sie kommt ins KZ, verbunden mit all den Erniedrigungen, Quälereien und Entsetzlichkeiten dieser Gegenwelt. Dort begegnet sie dem SS-Offizier Helmut wieder, mit dem sie eine unbeschwert luftige Erinnerung an einen Italien-Aufenthalt 1933 verbindet. Der junge Aristokrat hatte sich in die schöne Frau verliebt.
Helmut (Christian Clauß) ist der dritte Berichterstatter auf der Anklage- oder Zeugenbank, die vielleicht ein Beichtstuhl ist. Ein schneidiger, exquisiter Intellektueller, der über Tschechow promoviert und sich auf der »Flucht vor der Realität« in die Literatur versenkt. Von Himmler persönlich wird er für einen Sonderauftrag ausgewählt, um Korruption in den Lagern zu untersuchen und zu ahnden. In Dachau hat der mit dem Ritterkreuz ausgezeichnete Standartenführer schon für Ordnung gesorgt, als er nun in einer von SS-Mann Krause (Peter Kurth) unterstellten Vernichtungsmaschine mit Gaskammer und Krematorium auf eben Olga trifft und auch seinem desillusionierten Freund und Kameraden Vogel (Jakob Diehl) wiederbegegnet.
Helmut hat die Nazi-Ideologie als Opfergang durch den Schmutz zur Reinheit verinnerlicht und die Erlöserfigur Hitler für sich als »Welle gleißenden Glücks« erlebt. Er, der das Niedere und Ordinäre nicht erträgt, der das »Ideal« als sein »Paradies« sucht und nicht verwirklicht findet, erkennt in seinem Wahn der Vollkommenheit nicht, dass es das Inferno ist – die Hölle auf Erden. Moralische Skrupel sind ihm fremd, nur der Gedanke ist ihm unerträglich, dass die Idee der Herrenrasse sich ihrer selbst als unwürdig erweist. Sein Plan, Olga und sich zu retten, soll sich nicht erfüllen. Andrei Konchalovskys grandioser Film hat eine kühne Form, eingesetzt wie ein präzises Instrument aus der Kältekammer. »Paradies« will nicht historische Analyse sein, sondern ein psychologischer Entwurf. Und, ja, Gottesklage und eine Art Gottesgericht. Denn es sind die Toten, die hier reden und bekennen, die freigesprochen werden – oder aber verdammt.
»Paradies«; Regie: Andrei Konchalovsky; Russland / D 2016; 131 Min.; Start: 27. Juli 2017.