Eigentlich hatte sich Tim Isfort geschworen, so einen Job nicht wieder anzunehmen. Zu sehr hatten sich unschöne Erfahrungen eingebrannt, die er als Leiter des Duisburger Traumzeit-Festivals gemacht hatte. Wäre es nicht um seine Heimat Moers und vor allem um ein Jazz-Festival gegangen, dem er seine musikalische Sozialisation verdankt, hätte er abgewunken. Als er jedoch im Oktober 2016 gefragt wurde, die künstlerische Leitung des auch finanziell heftig in Schieflage geratenen Moers Festivals zu übernehmen, sagte er nach kurzer Bedenkzeit zu. »Wenn es 2017 nicht stattfindet, ist das Festival eigentlich tot«, wusste er. Es sei schwer, solch ein Projekt nach einem Jahr Zwangspause wiederzubeleben.
Im vergangenen Dezember begann Isfort die Arbeit. Trotz der für ein mehrtägiges Festival knapp bemessenen Planungsphase hat er es geschafft, ein kontrastreiches, wagemutiges Programm aufzustellen, für das Jazz-Prominenz ebenso eingeladen wird wie Newcomer und Bands aus der Weltmusik- und sogar Neo-Punk-Szene. Da kehrt etwa mit Anthony Braxton der große alte Mann des improvisierten Jazz zurück an den Niederrhein. Zugleich werden Bands wie das belgische Kollektiv Cocaine Piss und The Swans aus den USA in ohrenbetäubende Dezibel-Regionen vordringen und, so ahnt Isfort, »bei manch einem hartgesottenen Jazzfan für schlechte Laune sorgen«. Während sich der Trompeter John-Dennis Renken als aktueller »Improviser in residence« live in die Notenblätter schauen lässt, verbündet sich für das auch auf Techno und Funk ausgerichtete Programm »Cosmic String Time Travel« ein Streichquartett mit dem New Yorker Fusion-Trio Spacepilot.
Unerwartete Konstellationen sind es, mit denen Isfort an den Grundgedanken des Festivals anknüpfen will, der für ihn im Lauf der Zeit etwas verloren gegangen war. Moers habe sich in den letzten Jahren zu einer Art Hochkultur-Event entwickelt, mit Stühlen in der ersten Reihe und erstklassigem Sound. Was Isfort indes bereits bei ersten Besuchen in den 1980er Jahren nachhaltig begeistert hatte, war die Unberechenbarkeit des Programms: »Wenn man eine Karte gekauft hat, kannte man von fünf Bands vielleicht gerade mal zwei. Burkhard Hennen, der Gründer, hat damals schon mit der Erwartungshaltung des Publikums gespielt, indem er etwa die Einstürzenden Neubauten geholt hat.« 2017 kommt es zwar nicht zum Wiederhören mit der kompletten Berliner Avantgarde-Band. Dafür hat Isfort den Neubauten-Schlagwerker FM Einheit für ein exklusives Moers-Projekt mit dem aus Kinshasa stammenden Multiinstrumentalisten Bebson de la Rue engagiert.
Dass der in Mannheim geborene und in Moers aufgewachsene Musiker innerhalb weniger Monate namhafte Kollegen übers Pfingstwochenende herlockt, verdankt sich der guten Kontakte, die nicht nur auf seine gar nicht so traumhafte »Traumzeit« 2009 bis 2012 zurückgehen. Der studierte Kontrabassist hat, auch mit seinem »Tim Isfort Orchester«, mit unterschiedlichsten Gästen wie Blixa Bargeld, Katharina Thalbach und Irm Hermann gearbeitet. Zudem ist er mit Projekten für das Goethe-Institut in Afrika und Asien unterwegs. Außerdem gibt es die Auftritte mit der von Kollege Jan Klare ins Leben gerufenen, etwas anderen Jazzrock-Bigband The Dorf. Er wäre, sagt er, »musikalisch sicher-
lich nicht so weltoffen und experimentell geworden, wenn ich nicht früh die Konzerte in Moers erlebt hätte«. »Die gleiche Entdeckungsreise« wolle er daher auch jetzt bieten.
Mit dem Programm hat Isfort aber nicht nur ein Stammpublikum von Jung bis zu traditionellen Besuchern im Blick. Er will das regulär am Stadtrand, in der Festivalhalle, untergebrachte Festival in der Innenstadt verankern. »Moersi-
fizieren« nennt er sein Vorhaben, für das er dicke Bretter bohren und reichlich Überzeugungsarbeit leisten musste. Auf der Suche nach ungewöhnlichen Spielorten, in denen es kostenlose Überraschungskonzerte zu hören gibt, winkten mehrere Ladenbesitzer ab. Zu sehr waren noch die negativen Schlagzeilen abgespeichert, die das Festival bis 2016 begleiteten, als Isforts Vorgänger Reiner Michalke nach zehn Jahren desillusioniert hinwarf.
Inzwischen hat sich, auch dank des geduldigen Gesprächspartners Isfort, die Stimmung gewendet. Rund 20 Geschäfte, u.a. eine Buchhandlung und ein Kiosk, laden für kleinere halbstündige Auftritte ein. Auch sonst werden in der City mehr denn je Säle bespielt. In der Kulturkneipe »Die Röhre« duellieren sich die Top-Gitarristen Jean Paul Bourelly und Gert Neumann. In der Musikschule schaut das US-Trio ELEW um den Crossover-Pianisten Eric Lewis vorbei. In der Ev. Stadtkirche ist zunächst Frank Stanzl mit elektronischen Orgel-Sounds zu hören, bevor Ethan Iverson vom amerikanischen Kulttrio The Bad Plus sich am Klavier warm spielt für das Konzert am Folge-Abend in der Halle mit Reid Anderson und Dave King.
Mit diversen musikalischen Ausflügen einzelner Bandmitglieder will Isfort überhaupt das starre Konzept durchbrechen. Ihm schwebt vor, dass die Künstler nicht nur konzertieren, um dann weiterzureisen. Am liebsten wäre es ihm, wenn sie während der Festival-Gesamtdauer in Moers blieben, um zu Spontan-Sessions in die Innenstadt auszuschwirren. An Ideen mangelt es Tim Isfort nicht. Fast nebenbei betont er, dass selbst diejenigen, die zuletzt im Stadtrat für ein Ende des Festivals votiert hätten, ihn jetzt durchweg unterstützen würden. Vorerst ist Isforts Kontrakt auf drei Jahre begrenzt. Eine Verlängerung scheint schon jetzt gut möglich.
2. bis 5. Juni; WWW.MOERS-FESTIVAL.DE