TEXT NICOLE STRECKER
Er war schon immer die tollste Frau im Männerensemble. Auftritt mit seidig-fließendem Abendkleid im Saphirblau seiner Augen, schulterfrei, mit engem Mieder. Dazu spitze Pumps und ein glitzerndes Collier auf der zart-behaarten Brust. Oder: nichts als eine fluffig-weiße Tüllwolke um die Hüften, ein Schneeflöckchen, das der Sturm verweht. Dominique Mercy in Frauenkleidern war nie einfach nur eine lustige Travestie. Er war es wirklich, das zerbrechlich-scheue Nymphchen, das Aschenputtel, dem wie durch Wunder ein zauberhaftes Ballkleid zufliegt und das zum Tanz gehen darf, um sein wahres, sein edles Ich zu zeigen. »Ich benutze und berühre gern meine weibliche Seite«, sagt Dominique Mercy mit seinem schnurrigen französischen Akzent und seiner ein bisschen verdrehten Art, deutsche Worte zu verwenden. »Ich habe immer versucht, auf der Bühne ich selbst zu sein. Ich, Dominique. Auch die Frauen – das bin ich! Ich habe es geschehen lassen und nicht dagegen gekämpft. Das gehört zu den Dingen, die da waren.«
Die Dinge waren oft einfach »da« im Leben von Dominique Mercy. Der Tanz. Die Pina. Die Bewegungen in seinen Soli. Wuppertal. Und vor einem Jahr vermutlich auch Pascal Merighi, sein früherer Kollege beim Tanztheater, der für ihn, den Doyen des Ensembles, ein Solo kreierte: »That Paper Boy«. »Das bin ich«, sagt Mercy, der darin etwa mit einer Leuchtstoffröhre Partien seines 66-jährigen Tänzerkörpers beleuchtet. Gnadenlos kaltes Licht. Leichenblasses Fleisch, umgeben von tiefschwarzen Schatten-Abgründen, Altersspuren. »Veränderungen«, sagt Mercy, der Stoiker, dazu: »Die muss man in Kauf nehmen, die verstecke ich nicht.« Dabei sei er eigentlich nie jemand gewesen, dem es leicht fiel, sich zu exponieren. Dazu habe es immer sie gebraucht: Pina Bausch. Seine Chefin und Choreografin. Seine Freundin auch.
1972 kommt er für einen Workshop nach Saratoga in Kalifornien. Davor hatte der klassisch ausgebildete Mercy an der Oper Bordeaux und in einem kleinen Ensemble unter Leitung von Carolyn Carlson an der Pariser Oper getanzt. In den USA lebt er für die Zeit des Workshops in einer Villa, gemeinsam mit seiner späteren Frau Malou Airaudo, mit der er später das erste »Kompanie-Kind« bekommen wird: Thusnelda Mercy (selbst ehemalige Bausch-Tänzerin und Choreografin). Dann ist da noch eine Tänzerin aus deutscher Provinz, die den 22-Jährigen elektrisiert: »Sie hat Soloarbeiten gezeigt und war unglaublich! Ich war fasziniert von der Art ihrer Bewegungen, ihrer Aura. Das hat für mich gereicht, um nach Wuppertal zu kommen und mit ihr zu arbeiten.«
So emigriert der Franzose 1973 ins Bergische Land, wo Pina Bausch gerade die Leitung des Tanzes an den Wuppertaler Bühnen übertragen worden war. Zweimal geht er noch für kurze Zeit fort, kommt zurück, bleibt. Mehr als 40 Jahre lang.
Dominique Mercy beschimpft das Publikum. Es wolle immer nur Virtuosen-Stückchen, schreit er und gibt ihm – wütend und trotzig – wonach es giert: einen beeindruckenden Tour-en-l’air-Sprung. Da habt ihr ihn! Einen Spagat in der Luft, eine Serie flacher Sprünge en manège durchs blütenübersäte Bühnenrund. Alles klassischer Prinzentanz-Protz, aber getanzt nicht in engen Strumpfhosen und Suspensorium, sondern im hochfliegend schwarzen Tellerkleid, das seinen weißen Herren-Feinripp offenbart. 1982 in »Nelken«. Mercy als Ballett-Rebell, der doch selbst am innigsten liebt, was er lautstark verteufelt. Bis zum heutigen Tag trainiere er Ballett, sagt Mercy. Es war eben auch seine Passion für die perfekte Form, die ihn von vielen Kollegen unterschied: exakte Linienführung, präzise Posen, ein gestreckter Fuß. Im tanztheatralen, alltagsnahen Furor eine wohltuende Lust an der akademisch-aristokratischen Ordnung.
Sortieren, sammeln, bewahren – das brachte ihm auch im Solo von Pascal Merighi das Etikett »Paper Boy« ein. Er schneide gern Artikel aus: »Mir fällt es schwer, Zeitungen wegzuschmeißen, ich mag Papier und Bücher«, sagt Mercy. Fragt man ihn aber, ob dies ein autobiografischer Verweis sein könne, immerhin führte seine Mutter einen Schreibwarenladen, so lacht er nur. Zuviel des psychologischen Deutelns. Überhaupt diese lästigen Fragen nach dem Warum. Mercy stemmt sich sehr dagegen, als fürchte er, jede Analyse würde ihm das Dasein entzaubern. »Ich bin nicht jemand, der Dinge auseinandernehmen muss, um zu wissen, ob ich sie wichtig finde. Da muss etwas funkeln, das genügt. Die schönsten Dinge kann man nicht erklären.« Ratio als Feind der Intuition, geschützte Naivität als Quell der Fantasie, »danse automatique«. Mercy, der ewig-kindliche Clown und schelmische Herzbube. Aber noch mehr: die erschütternd-empfindsame Seele.
Dominique Mercy schleift sich am eigenen Hemd über die Bühne. Krallt die Faust in die Brust, als wolle er sein Herz herausrupfen, reißt die Arme auseinander, bietet seinen Körper einer unsichtbaren Macht an. Dem Tod? Ein grandioser Kampf mit den inneren Dämonen in Pina Bauschs 2006 entstandener Choreografie »Vollmond«, schmerzzerwühlt, in sich selbst bohrend. So hat man ihn in den letzten Bausch-Arbeiten oft gesehen: der alternde kleine Mann in einem immer jünger werdenden Ensemble, der unter den Blicken Hunderter ganz bei sich selbst bleibt, fort aus dem Getümmel in die eigenen Seelentiefen abtaucht. »Es ist wahr, dass Tanz bei mir verbunden ist mit seelischen Verletzungen, ich kann aber nicht sagen, warum. Irgendwelche Ecken… Etwas Besonderes. Ich kann es nicht erklären, ehrlich.«
Er kann es nicht, will es nicht. Vielleicht habe er sich deswegen so gut mit Pina verstanden, weil beide das Schweigen schätzten. Ihre inspirierenden Fragen, seine intimen Tanz-Antworten, viel Selbstentblößung, keine Begründungen. »Du brauchst ein dickes Fell«, habe Pina ihm oft gesagt. »Sie hatte das. Pina hatte ein ganz zärtliches Wesen und war gleichzeitig eine starke, verantwortungsvolle Frau.« Seine Nähe zur Sphinx von Wuppertal brachte ihm 2009 für vier Jahre eine ungeliebte Verantwortung. Das Ensemble wählte ihn kurz nach dem Tod der Prinzipalin gemeinsam mit Robert Sturm zu den künstlerischen Leitern des Ensembles. Es gelang ihnen, die Kompanie erst einmal zu konsolidieren, aber: »Ich war überfordert, irgendwann war es mir zu viel. Es war eine Phase, in der wir alle ein bisschen verloren waren, eine Trauerzeit, und Trauern bringt viele Zweifel mit sich und Auseinandersetzung.«
Mercy übergab an den Kollegen Lutz Förster, der zu Beginn dieser Spielzeit in sein früheres Amt als Professor für zeitgenössischen Tanz an die Folkwang Universität der Künste zurückkehrte. Ab Mai 2017 wird die Tanzmanagerin Adolphe Binder die Kompanie leiten. Bis dahin gibt es ein fünfköpfiges Führungsteam, das sich um die Repertoirepflege kümmert. Ein neues Stück ist fürs nächste Jahr wieder einmal nicht geplant. Im Ernst? Mercy verweist liebenswürdig vergnügt darauf, dass er das nicht kommentiere. Er ist ja nur Kompaniemitglied und wird in Stücken wie »Palermo Palermo«, »Viktor« oder »Ten Chi« auf der Bühne stehen. Nur ein Tänzer unter vielen. Falsch! Ein ganz besonderer.
»That Paper Boy – un solo pour Dominique Mercy« & »WAK.NTR Rehab.« von Pascal Merighi im Rahmen der Programm-Serie Real Bodies: 13. und 14. November 2016, tanzhaus nrw.