TEXT PATRICK WILDERMANN
Wenn das Theater Krieg spielt, wird es Zeit, in Deckung zu gehen. Entweder fliegen einem die Worthülsen nur so um die Ohren, oder Blendgranaten des Bescheidwissertums explodieren in höherer Frequenz als Raketen zu Silvester. Im worst case erhebt das Einfühlungstheater seine Fratze, und der Schrecken von Tod und Terror soll einem physisch nahegebracht werden. Rette sich, wer kann. Von solchen Missverständnissen der Konfliktbewältigung ist die Performance »Untitled (look, look, come closer)« der Choreografin Christine Gaigg und ihrer Compagnie 2nd Nature aber zum Glück so weit entfernt wie der Kölner Dom von Damaskus.
Sonst wäre sie wohl auch nicht zum »Impulse Theater Festival 2016« eingeladen worden. Das schickt sich nicht gerade an, mithilfe der Freien Szene, deren state of the art es bündelt, die Welt erklären zu wollen. Sondern setzt im Gegenteil auf Produktionen, in denen sich die grassierende Unübersichtlichkeit der Gegenwart ohne diskursiven Beipackzettel fortsetzt – als politische und private Ratlosigkeit.
Bei Christine Gaigg und dem Komponisten Klaus Schedl, der ein dauerunheilvolles Soundgewummer hinlegt, stellt sich nicht etwa die alte Phrasen-Frage: Was hat der Krieg mit uns zu tun? Sondern, willkommene Perspektivverschiebung: Was machen die Bilder vom Krieg mit uns? Schließlich trägt heute jeder den Frontberichterstatter in Smartphone-Form in der Hosentasche, der über alle Kanäle die Katastrophenschaulust bedient. Entsprechend triggert die Künstlerin unsere Schubladen-Reflexe. Ihre Performer lassen an illuminierten Labortischen fürs Publikum Panzer durch Einwegrasierer-Gebiet fahren. Errichten Miniaturgalgen mit Gräuelmotiven. Oder formen aus Ton einen erigierten Penis, der zum Gewehrträger mutiert. Kinderspiele, klar. Die das konditionierte Zuschauerhirn aber augenblicklich in die bekannten Bilder zwischen IS und Syrienkrise sortiert. Krieg ist nicht zuletzt eine Kopfgeburt.
»Start Cooking … Recipe will follow«, hat der »Impulse Theater Festival 2016«-Leiter Florian Malzacher seinem Festival als Jahrgangs-Motto verpasst. Was in etwa auch der Leitspruch des Einsatzes der Amerikaner und Deutschen in Afghanistan war. Kurz vor Ende der ISAF-Mission sind die Künstler der Costa-Compagnie unter Führung von Felix Meyer-Christian noch mal an den Hindukush gereist, um zu schauen, welche Freiheit da genau verteidigt wurde. Mit Soldaten haben sie gesprochen, mit Zivilisten, mit Taliban-Fans und emanzipierten Frauen. Entstanden ist aus der Recherche die kluge Performance »Conversion / Nach Afghanistan«. Ein Mix aus Videoimpressionen, Tanzpassagen und Dokutheater. Im Satz eines interviewten Befehlshabers, wonach die »Freund-Feind-Kennung« vor Ort verloren gegangen sei, ist dabei ziemlich präzise der Status quo der militärisch-moralischen Orientierungslosigkeit zusammengefasst. Noch ein Kriegsstück, das ohne Didaktik überzeugt.
Es gab ja mal eine Zeit, gar nicht so lange her, in der man der Freien Szene eine verbreitete Neigung zur Nabelschau nicht absprechen konnte. Besonders gern brach die sich in dauernden Lamenti über die eigenen prekären Produktionsbedingungen Bahn. Davon ist nicht mehr viel übrig, wie gut. Interessanterweise ist aber auch der Rückschlag schon wieder verebbt, der als ambitionierter Empathie-Überschuss eine Inflation von NSU- und Flüchtlingsprojekten zeitigte.
Explizit mit dem Thema Flucht setzt sich von den eingeladenen Produktionen dieses »Impulse«-Jahrgangs nur »Evros Water Walk« auseinander (sowie, als Bonus-Track, das Hörspiel »Orpheus in der Oberwelt. Eine Schlepperoper« von andcompany&Co.). »Evros« ist der Name des Grenzflusses zwischen der Türkei und Griechenland und »Water Walk« der Titel einer kurzen John-Cage-Komposition, die in einer amerikanischen Game-Show unter Zuhilfenahme von Gummi-Enten und Dampfkochtöpfen geboren wurde. Die Zusammensetzung »Evros Water Walk« hat sich Rimini-Protokoll-Regisseur Daniel Wetzel ausgedacht. Junge Refugees aus Afghanistan, Syrien oder dem Sudan, die in Athen Zuflucht gefunden haben, erzählen an Audiostationen ihre naturgemäß grauenhaften Odyssee-Erlebnisse. Und geben den Zuhörern Anweisung, Cages Drei-Minuten-Opus mittels bereitstehender Utensilien aus der jeweiligen Geschichte nachzuspielen. Mit Schlauchboot, Spielzeuggewehr oder Paddel. Was hier nach schlimmem Mitmach-Mumpitz klingen mag, gewinnt durch die freudvolle Regie-Position der Refugees tatsächlich ganz eigene Kraft. Und ist eben, um mit René Pollesch zu sprechen, keine Copyrights-Verletzung am Elend der anderen.
Apropos Copyright: Das ist auch Thema des Peformance-Essays »Situation mit Doppelgänger« von Regisseur Oliver Zahn und Kulturwissenschaftler Julian Warner, die sich als muntere Amateur-Tänzer Gedanken über das geistige Eigentumsrecht am Beispiel von Schuhplattler, Stepptanz oder Cakewalk machen. Im Zentrum die kulturhistorisch zu beleuchtenden Frage, ob die Weißen von den Schwarzen abgekupfert haben, oder umgekehrt. Was bei allem erkenntnistheoretischen Ernst ziemlich komische Blüten treibt, wenn es ums Twerking schwarzer Transsexueller in New Orleans geht, das als bizarre Kopie zur Fitness-Übung weißer Frauen in Dortmund wird. Die Themen Zuschreibung, Ausbeutung und Kulturraub sind jedenfalls schon lange nicht mehr so vergnüglich und lehrreich in Kombination verhandelt worden.
Was ja eigentlich die Domäne von Gintersdorfer/Klaßen ist. Die weiten ihr bekanntes deutsch-ivorisches Kollaborations-Programm in »Der Botschafter« zum Politmusical unter Beteiligung illustrer Gäste wie Ted Gaier, Anne Tismer oder Tucké Royale. Es geht (unter losen Bezügen zum Singspielfilm »Die Regenschirme von Cherbourg«) um die Probleme diplomatischer Repräsentanz und minenfeldfreier Verständigung. Protagonisten sind neben anderen zwei deutsche Botschafter an der Elfenbeinküste, die mehr oder minder krisenfest und selbstgewiss durch die Fremde stapfen. Was allerdings ungefähr so konfus bleibt, wie sich die Situation in egal welchem afrikanischen Land dem durchschnittlichen Westeuropäer klischeegerecht vermittelt. Klar wird einmal mehr nur, dass Kolonisation die Mutter aller Krisen und Kriege ist, an denen Kunst und Realität sich gerade abarbeiten müssen.
Politische Themen – die erste Erkenntnis, die sich aus der »Impulse«-Ausgabe 2016 gewinnen lässt – machen eben noch kein politisches Theater. Dass auch der Rückzug ins Private keine Lösung ist, beweisen zweitens die notorisch grenzbefreiten Profi-Exhibitionisten der Gruppe She She Pop mit »50 Grades of Shame«, die Wedekinds »Frühlingserwachen« und E.L. James’ Sadomaso-Schmonzette zum fröhlich-sinnfreien »Was Sie noch nie über Sex wissen wollten«-Abend vermengen.
Dritte und letzte Lehre: Inmitten der sich auflösenden Gewissheiten um Konflikt-Trennschärfen sind wetterfeste Zukunftsentwürfe Mangelware. Vom israelischen Regisseur Ariel Efraim Ashbel sollte man jedenfalls keine erwarten. Der Wahlberliner begibt sich in »The Empire Strikes Back: Kingdom of the Synthetic« mit einem internationalen Ensemble auf eine retrofuturistische Suche nach der Auflösung des Konzepts von »Rasse« – vielleicht morgen, vielleicht überübermorgen, bei der sich zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Komik spätestens dann nicht mehr unterscheiden lässt, wenn Alien-Performer im Latexdress auf Stanley Kubricks Weltraum-Affen treffen.
Da sind die Kids aus Sebastian Nüblings Inszenierung »Noise« vom Jungen Theater Basel schon weiter. Die befinden sich als queere Cyborgs im Zustand rasenden Auf-der-Stelle-Tretens – post-gender, post-politics, post-capitalism schleudern sie ihre Energie ins Ungewisse und suchen nach neuen Formen des Aufbegehrens. Sie wissen auch nicht weiter. Aber das ist in diesem Fall kein schlechter Anfang.
»Impulse Theater Festival 2016«: 15. bis 25. Juni 2016, Düsseldorf, Köln, Mülheim.